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Das Ziel von mehr Ruhe und Einigkeit in der Ampelkoalition hält nicht lang. Im Fokus des neuerlichen Streits steht erneut die Kindergrundsicherung. Wir erklären, worum es bei diesem zentralen Regierungsprojekt geht.

Anders als geplant hat das Kabinett am Mittwoch (16. August) nicht das sogenannte Wachstumschancengesetz von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verabschiedet. Ein Paket mit steuerpolitischen Maßnahmen, die die Wirtschaft um jährlich rund 6,5 Milliarden Euro entlasten sollen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) blockiert das Vorhaben, weil sie mehr Geld für die Kindergrundsicherung fordert.

Warum blockiert Familienministerin Lisa Paus ein Gesetzesvorhaben?

Man könne nicht so viel Geld in die Wirtschaft stecken, aber nicht mehr in die Kindergrundsicherung zur Unterstützung von Familien mit wenig Geld, argumentiert Lisa Paus. Die Chefin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, legt nach: „Wer Geld für Steuersenkungen für Unternehmen hat, hat doch wohl auch Geld für Kinder in Armut, oder?“

Zuletzt hatte Bundeskanzler Olaf Scholz ein schriftliches Machtwort gesprochen und Paus aufgefordert, bis Ende August einen in der Regierung geeinten Gesetzentwurf vorzulegen. Dieser sei „in den letzten Zügen“, so Paus.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken geht fest davon aus, dass es am Ende mehr als zwei Milliarden Euro sein werden.

Wie viel Geld ist für 2024 für die Kindergrundsicherung eingeplant?

Familienministerin Paus hatte dafür ursprünglich einmal zwölf Milliarden Euro im Jahr veranschlagt. In der Finanzplanung für das Jahr 2025, in dem die Kindergrundsicherung eingeführt werden soll, stehen nun als „Platzhalter“ zwei Milliarden. Bei welcher Summe der Zeiger am Ende wirklich stehen wird, dürfte Ende August klar sein, wenn endlich ein Gesetzentwurf für das Vorhaben fertig sein soll.

Was ist die Kindergrundsicherung?

Bei der Kindergrundsicherung geh es um das Minimum an Mitteln, das Kinder benötigen, um materiell abgesichert zu sein und das ihnen gleichzeitig ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht – also etwa Kino, Sportverein oder Musikunterricht.

Dieses Existenzminimum wird auf Basis von Statistiken berechnet. Daran sind dann etwa Bürgergeldsätze und andere staatliche Leistungen ausgerichtet. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampel vorgenommen, das soziokulturelle Existenzminimum neu zu definieren. Darauf pocht Paus in der Hoffnung, dass am Ende höhere Leistungen für Kinder stehen. Die möglichen Kosten dafür sind offen.

Wer ist von Kinderarmut betroffen?

Die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft, die mit ihren Eltern auf Bürgergeld – also aufsozialstaatliche Grundsicherung – angewiesen sind, ist in den vergangenen acht Jahren deutlich um mehr als ein Drittel gesunken. Das geht aus aktuellen Daten der Bundesagentur für Arbeit hervor.

2015 hatten noch 1,57 Millionen solcher Kinder von den damaligen Hartz-IV-Bezügen gelebt, bis März diesen Jahres sank die Zahl auf 1,03 Millionen, die auf das seit 1. Januar 2023 eingeführte Bürgergeld angewiesen sind.

Wie haben sich die Zahlen hilfsbedürftiger ausländischer Kinder entwickelt?

Die Gesamtzahl der betroffenen Kinder ist demnach allerdings über diese acht Jahre konstant geblieben. Denn durch Fluchtmigration kamen viele Kinder neu nach Deutschland und in das Hilfesystem hinein.

Den Angaben der Bundesagentur zufolge haben derzeit insgesamt 47,8 Prozent der Kinder im Bürgergeld eine ausländische Staatsangehörigkeit – gegenüber 18,9 Prozent im Jahr 2015.

Seit 2015 kamen demnach mehr als 300 000 Kinder aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Asylherkunftsländern in das Sozialsystem hinzu, seit 2022 dann noch rund 270 000 Kinder aus der Ukraine.

Sind Kinder in Deutschland von Armut besonders betroffen?

Zuletzt hatte die Bertelsmanns Stiftung in Gütersloh eine Studie zur Kinderarmut in Deutschland vorgelegt. Der Analyse zufolge sind die Zahlen unverändert hoch und das Problem eine „unbearbeitete Großbaustelle“, heißt es in dem Bericht. Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Armut auf – 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen, wie die Bertelsmann Stiftung Mitte Juli berichtete. „Seit Jahren ist der Kampf gegen Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland.“

Mehr als jeder fünfte Heranwachsende sei betroffen – mit regional starken Unterschieden. Nach Bundesländern werden in den Stadtstaaten Bremen und Berlin besonders viele Kinder und Jugendliche in finanziell schwachen Verhältnissen groß. In Bayern und Baden-Württemberg sieht es für sie im Vergleich am besten aus.

Info: Armut in Deutschland

Armut
In Deutschland waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) in Wiesbaden im vergangenen Jahr rund 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entsprach etwa einem Fünftel (20,9 Prozent) der Bevölkerung. Im Vorjahresvergleich blieben die Zahlen nahezu unverändert. So lag der Anteil im Jahr 2021 bei 21 Prozent. Die Statistiker bezogen sich bei ihren Daten auf erste Ergebnisse der Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC).

Kriterien
Laut den Angaben gilt ein Mensch in der EU als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eine der folgenden drei Bedingungen zutrifft: • Das Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze. • · Der Haushalt ist von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen. • Die Person lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.

Armutsgefährdungsquote
Die sogenannte Armutsgefährdungsquote gibt den Anteil derjenigen an, deren verfügbares Einkommen unter Einbeziehung möglicher Sozialleistungen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung liegt. 2022 lag dieser Wert beispielsweise für Alleinlebende hierzulande bei 1250 Euro netto im Monat. Konkret waren 2022 etwa 12,2 Millionen Menschen (14,7 Prozent) armutsgefährdet. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 hatte die Armutsgefährdungsquote 16 Prozent betragen.

Grade von Armut
• Erhebliche materielle und soziale Entbehrung: Den Daten zufolge waren 5,1 Millionen Menschen (6,1 Prozent) 2023 von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen (2021: 4,3 Prozent). „Das bedeutet, dass ihre Lebensbedingungen aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln deutlich eingeschränkt waren“, erklären die Destatis-Statistiker. So seien sie beispielsweise nicht in der Lage, Rechnungen für Miete oder Hypotheken zu zahlen, eine Woche in den Urlaub zu fahren, abgewohnte Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat im Freundeskreis oder mit der Familie etwas essen oder trinken zu gehen. • Sehr niedrige Erwerbsbeteiligung: Etwa 9,7 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren oder 6,1 Millionen Menschen in Deutschland lebten 2022 in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung (2021: 9,5 Prozent). „Das heißt, die Haushaltsmitglieder waren insgesamt sehr wenig oder nicht in den Arbeitsmarkt eingebunden“, heißt es seitens Destatis.