Kunst in XXL: Anselm Kiefer in seinen Produktionshallen Foto: /Road Movies Wim Wenders

Geht das, sich einem Kunststar und seinen eigenen Mythen zu nähern, ohne diesen und ihm zu verfallen? Wim Wenders versucht dies mit „Anselm“ über die Welt von Anselm Kiefer.

Moose, Farne, ein Grün, wie es nur ein Grün je sein kann. Und darüber ein Wispern und ein Tanz, der keiner ist. Die Kamera (von Franz Lustig) ist es ja, die Figurinen zwischen Elfen und Hexen umkreist, Figurinen zwischen Margarete und Sulamith, Mahn-, Erinnerungs-, Verweis- und Traumgestalten deutscher Mythen und Schrecken, die im Wald als den Bäumen gleichberechtigte Lebewesen auftauchen.

Anselm Kiefer, der weltweit bekannteste deutsche Künstler, hat den einst nur wenige Zentimeter messenden Figurinen ein Eigenleben gegeben in seinen früh schon zu eigenen Erzählungen und Aufführungen verdichteten Bildern. Nun stehen sie als „Frauen der Antike“ lebensgroß im Zauberwald unweit einer eigenen, mehr als 40 Hektar messenden Kiefer-Welt aus Produktions- und Ausstellungshallen.

Anselm Kiefer: Mit dem Rad auf dem Weg durch sein Materiallager Foto: R/ oad Movies Wim Wenders

Wim Wenders nimmt den romantischen Ton in Kiefers Schaffen ernst. Als radikale Beschränkung. Wie passt dies zu dem überbordenden Einsatz von Naturmaterialien? Kaum mehr identifizierbaren Farbebenen? Eincollagierten Fundstücken und den in immer raunendem Ton eingeschriebenen Zitaten? Wenders will es in 3-D erspüren.

Malerei als Performance in XXL

Der Wald als Theater – das liegt nahe. Nicht anders als die Produktionshallen in La Ribaute in der Nähe von Avignon. Malerei als Performance im XXL-Format. Malerei inmitten von Schutt überkommener Zukunftshoffnungen industriellen Dauerwachstums. Anselm Kiefer steigt über die Trümmer, als plane er deren nächsten Einsatz. Wieder ein Stück Beschränkung, wieder ein Stück Romantik. Durchkreuzt von Versen weit hinter dem Abgrund. Von Ingeborg Bac hmann, von Paul Celan.

Zentrale Akteure in „Anselm“: Kiefers „Frauen der Antike“ Foto: R/MWW/R oad Movies Wim Wenders

„Das Rauschen der Zeit“ hat Wim Wenders dem schlichten „Anselm“ im Filmtitel hinzugefügt. Ein Stück Erklärung, wie die Spielszenen-Rückblenden, in denen das unverstandene Alleinsein fast übergriffige Dominanz gewinnt. Nicht anders als später die unterstellte Ablehnung eines im Ausland gefeierten Künstlers. Wim Wenders braucht manches nicht zu interessieren – bis hin zum Bemühen Lothar Späths als Ministerpräsident Baden-Württembergs, den gebürtigen Donaueschinger Kiefer im Land zu halten. Und doch irritiert die Legende der Ablehnung, der doch eine Unzahl früher Ausstellungen entgegenstehen seit Kiefers Teilnahme an der Ausstellung 14 x 14 in der Kunsthalle Baden-Baden 1973 und dem Deutschen Pavillon bei der Biennale Venedig 1980 sowie dem Dialog mit Walter Stöhrer im gleichen Jahr im Württembergischen Kunstverein.

„Besetzungen“ als Abschluss in Karlsruhe

Als Fehlstelle gar erweist sich, dass zu den „Besetzungen“ – Kiefer in der Wehrmachtsuniform seines Vaters mit Hitlergruß in diversen europäischen Ländern, die Abschlussarbeit des jungen Künstlers an der Kunstakademie Karlsruhe – nicht Wegbegleiter wie Götz Adriani und Werner Spies zu Wort kommen. Lieber macht „Anselm“ aus Kiefer, Schüler von Peter Dreher in Freiburg und Horst Antes in Karlsruhe, historisch unkorrekt einen Meisterschüler von Joseph Beuys und vervielfacht das Raunen des ersten Tanzes im Wald. Erst das Vertrauen in die Kamera bringt im letzten Drittel die Wucht der Leichtigkeit zurück. Romantik, zeigt sich in „Anselm“, ist eine Frage der Präzision.

Anselm – Das Rauschen der Zeit. Deutschland 2023. Regie: Wim Wenders. 93 Minuten. Ab 6 Jahren.