Familien müssen keine Angst haben, dass ihre dementen Angehörigen stören könnten, wenn Günter Fischer mit dem Musica Varia Ensemble in Tamm spielt. Foto: privat/Christian Mattis

Ein Konzert in Tamm (Kreis Ludwigsburg) für Menschen mit Demenz, im geschützten Raum, ohne dass sich jemand genieren muss: Warum das Musica Varia Ensemble das wichtig findet und welche Erfahrungen es damit macht, erzählt Kontrabassist Günter Fischer im Interview.

Der Mann am Kontrabass heißt Günter Fischer und ist Mitglied des Musica Varia Ensembles, einer Formation der Württembergischen Philharmonie Reutlingen. Das Ensemble ist, wie das ganze Orchester, immer für besondere Projekte zu haben. Zur Woche der Demenz im Landkreis Ludwigsburg kommt es nach Tamm: Zu seinem Konzert, das Schlager aus der Ufa-Zeit instrumental wieder aufleben lässt, lädt es speziell Menschen mit Demenz und ihre Familien ein. Im Interview erzählt der Kontrabassist und Conférencier, warum Angehörige keine Sorgen haben müssen, dass sich jemand nicht konzert-like benehmen könnte, warum diese Konzerte auch die Musiker selbst besonders berühren und warum ihm Formate wie diese ein ganz besonderes Anliegen sind.

Herr Fischer, Sie geben mit Ihren Kammermusik-Kollegen ein Konzert mit Hits aus den 1930er-Jahren für Demenzkranke und ihre Angehörigen. Warum entscheiden sich viel beschäftigte Musiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen für so ein Nischen-Format?

Weil wir immer innovativ bleiben und unsere Herzensprojekte umsetzen wollen. Viele Menschen mit Demenz oder ihre Angehörigen trauen sich nicht mehr in ein „normales“ Konzert. Die Familien haben Angst, dass ihre dementen Angehörigen auffallen oder stören könnten, vor allem, wenn sie schon in einem Zustand sind, in dem sie nicht mehr ansprechbar sind. Bei unseren Seelenbalsam-Konzerten macht das überhaupt nichts aus. Wenn die Zuhörer zwischendurch vielleicht unruhig werden, womöglich einmal raus müssen, ist das völlig in Ordnung.

Treten diese Befürchtungen bei den Konzerten ein?

Viel seltener, als man denken würde. Extreme Reaktionen haben wir noch nie erlebt. Eher summen oder singen die Zuhörer vielleicht leise mit. Wir haben ja extra Titel zum Beispiel von Zarah Leander, Hans Albers, Marlene Dietrich oder Heinz Rühmann ausgewählt: alte Ufa-Schlager aus den Dreißigerjahren, die viele Menschen dieser Generation noch kennen. Außerdem gehen diese Konzerte nicht so lange, nur rund eine Stunde, und ich moderiere sie. Man muss nicht das ganze Konzert hindurch andächtig schweigend dasitzen. Und wenn es zwischendurch mal ein bisschen lauter wird, ist das für uns wirklich überhaupt kein Problem.

Aber noch einmal: Die Württembergische Philharmonie ist ja auch so gut ausgelastet. Weshalb machen Sie in kleinerer Runde solche Konzerte on top?

Ich mache seit 35 Jahren Musikvermittlungsprojekte, sie sind mir sehr wichtig. Als meine Generation an die Musikhochschulen kam, waren da viele innovative Leute aus Landesjugendorchestern und aus dem Bundesjugendorchester dabei, die einfach auch ein bisschen andere Konzertformate jenseits des Etablierten machen wollten. Auch ich war früher im bayerischen Landesjugendorchester und wollte mit ein paar anderen Musikern, als wir zu alt für das Orchester waren, unbedingt weiter zusammen musizieren. Ein Männerchor hat uns dann auf Schloss Werneck eine erste gemeinsame Arbeitsphase finanziert. Daraus erwuchs damals das Kammerorchester Schloss Werneck, das auf dem Land dann auch mit Neuer Musik und Experimentellem ankam. Zum Beispiel spielten wir dort in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik oder in einer Jugendstrafanstalt. Und obwohl ein Großteil von uns später in klassische Orchester ging, wollten viele nebenher auch noch etwas anderes machen. Die Württembergische Philharmonie ist aber sowieso affin für unorthodoxe Projekte. Unsere Dramaturgin Stefanie Eberhardt hat dafür immer sehr offene Ohren.

Gibt es neben den Demenz-Konzerten mit dem kleineren Ensemble auch andere integrative Konzerte?

Viele! Wir haben zum Beispiel das große Fugato-Konzert mit Geflüchteten aus aller Welt gemacht, das ja auch im Ludwigsburger Forum aufgeführt wurde. Wir machen Konzerte mit Behinderten oder mit Jugendlichen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen und die aus der Zusammenarbeit mit uns Selbstvertrauen ziehen können. Das erleben wir immer wieder. Aber auch mit Kindern und Jugendlichen ohne Problemhintergrund wollen wir in Kontakt kommen, denn wir müssen uns unser zukünftiges Publikum selbst schaffen. Es wird langsam akut: Das Bildungsbürgertum bricht weg, und jedes Orchester, das nicht mit Musikvermittlung in großem Stil anfängt, ist schlecht beraten.

Und da ziehen alle Kolleginnen und Kollegen gleich begeistert mit?

Es ist wie überall im Leben: Es gibt immer sehr engagierte Leute, die mehr machen als Dienst nach Vorschrift, weil sie für etwas brennen. In unserem Orchester ist die Bereitschaft, sich in dieser Hinsicht zu engagieren, zum Glück ziemlich groß.

Was macht Programme wie das für die Demenz-Erkrankten für Sie als Musiker so wertvoll?

Es entsteht eine ganz andere, weniger distanzierte Verbindung zwischen uns Musikern und dem Publikum. Da kann jemand rein äußerlich vollkommen abwesend sein, und dann ist er bei einem Stück wie „La Paloma“ plötzlich volle Kanne dabei. Irgendein Echo aus ihrer Jugend hallt da wider, und dann sind diese Menschen emotional voll da, es entsteht eine direkte Verbindung zu ihrer Seele. Das ist für uns energetisch zu spüren, und es ist sehr berührend. Nicht umsonst heißt das Programm „Seelenbalsam“.

Herr Fischer, wie möchten Sie selbst alt werden?

Ich habe gerade in meinem Berufsorchester, der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, aufgehört, weil ich das Rentenalter erreicht habe. So lange ich kann und fähig bin, möchte ich aber weiter Musikvermittlungsprogramme jeglicher Art machen. Zum Beispiel haben wir da ein spannendes Projekt: Wir haben in der Württembergischen Philharmonie ein Philharmonisches Mobil, kurz Philmo, mit dem wir über die Dörfer fahren und Schüler besuchen, die nicht automatisch in ein Konzert kommen können. Dafür wurden extra Stücke eingespielt. Die können sie dann in Dolby-Surround-Qualität hören und das Orchester dabei mit VR-Brillen hautnah erleben. Es gibt noch viele tolle Dinge, die ich mir vorstellen kann.

Musik für die Seele

Das Konzert
„Schöner Gigolo“ – ein Programm für Menschen mit Demenz des Musica Varia Ensembles, findet am Sonntag, 17. September, um 15 Uhr im Bürgersaal in Tamm in der Bissinger Straße 8 statt. Der Eintritt ist kostenlos mit Frei-Tickets, die zur besseren Planung vorab im Rathaus Tamm, bei Schreibwaren Buy Dons Tamm, in der Rathaus-Apotheke und der Flora-Apotheke abgeholt werden sollten. Zu haben sind sie außerdem in Ludwigsburg bei der Touristinfo im MIK oder am Konzerttag selbst ab 14 Uhr am Ticketschalter im Bürgersaal.

Der Gesprächspartner
Günter Fischer, 1957 in Würzburg geboren, bestand mit 15 Jahren mit der Trompete die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, musste mit 17 nach einer Ohren-Operation das Instrument wechseln und bekam die Chance, mit dem Kontrabass neu anzufangen. Er ist seit 1979 Mitglied im Bayerischen Kammerorchester Bad Brückenau, war 40 Jahre lang stellvertretender Solokontrabassist an der Württembergischen Philharmonie in Reutlingen, ist Gründungsmitglied des Musica Varia Ensembles und leitet es seit 35 Jahren. Er unterrichtete lange Zeit auch Kontrabass, kreierte viele Programmideen für das Bayerische Kammerorchester, die Württembergische Philharmonie und das Musica Varia Ensemble und konzipierte unter anderem die Kinderkonzertreihe „Der alte Mann und der Bär“.