Diskutieren über das richtige Essen: Kulinarik-Autorin Anja Wasserbäch (links) mit der kochenden Politikerin Sarah Wiener und Sternekoch Paul Ivić. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung über die Ernährung der Zukunft verrät Fernsehköchin Sarah Wiener, wieso sie sich aus der Politik verabschiedet und Sternekoch Paul Ivić spricht offen über Depressionen. Über einen kontroversen Abend.

Ein Abend ist ja immer nur so unterhaltsam und erhellend wie die Gäste, die man eingeladen hat. Der Treffpunkt Foyer unserer Zeitung am Donnerstagabend zum Thema „Ernährung der Zukunft“ mit den Köchen Sarah Wiener und Paul Ivić war berührend ehrlich und so lehrreich, dass als Fazit nur die Erkenntnis bleiben kann: Wiener und Ivić kann man immer und gerne wieder einladen.

Dabei hatten nicht nur die 400 Gäste im Publikum in der Sparkassenakademie Stuttgart bei der Anreise dem Wetter getrotzt, sondern auch die Protagonisten auf der Bühne: Sarah Wiener von Straßburg aus kommend, Paul Ivić aus Wien angereist. Alleine fürs sichere Ankommen hatten sich alle Anwesenden Fleißsternchen verdient.

Sarah Wiener sagt der Politik Servus

Die Anreise trotz Eis und Schnee hatte sich schon wegen der Vita der Gäste auf dem Podium gelohnt: Die eine, Sarah Wiener, Jahrgang 1962, ist EU-Abgeordnete – noch, aber dazu später mehr – dazu natürlich Köchin, Unternehmerin, Autorin, Bio-Landwirtin, Hobby-Imkerin und als Multitalent also fast so bekannt, dass die Hauptstadt von Österreich nach ihr benannt wurde.

Der andere, Paul Ivić, geboren 1978 in Serfaus in Tirol, hat zwei vegetarische Restaurants. Eines davon, das Tian, ist eines der wenigen vegetarischen Lokale weltweit, das sich mit einem Michelin-Stern schmücken kann. Mit großer Offenheit spricht er beim Treffpunkt Foyer unter anderem über seine Depressionen, die sich durch falsche Ernährung noch verstärkt hätten – auch dazu später mehr.

Gerade auf Reisen ist gesundes Essen eine Kunst

Moderatorin Anja Wasserbäch, Kulinarik-Autorin unserer Zeitung, strukturiert den Abend wie ein emotionales Mehr-Gänge-Menü: Zur Vorspeise fragt sie ihre Gäste auf dem Podium, was die beiden heute schon gegessen hätten. „Einen Espresso“, antwortet Paul Ivić, vorgetragen in diesem wunderschönen Dialekt, den es nur südlich der Alpen gibt. Es sei eben schwierig mit dem Reisen und dem Essen unterwegs.

Sarah Wiener hat bei der Anreise den strategischen Vorteil, aus dem Elsass zu kommen. Sie konnte sich für die Autofahrt also mit französischen Köstlichkeiten eindecken und schwärmt von ehrlichen Backwaren, Schinken ohne Nitritpökelsalz und einem Glas Rohkost, von dem sie noch was übrig habe. Bei Ivić setzt nach seiner Espresso-Diät spätestens jetzt der kleine Hunger ein.

Beim Hauptgang wird es dann direkt politisch: Ob Sarah Wiener als Teilhaberin eines Bauernhofs die Bauernproteste verstehen könne, fragt die Moderatorin Wasserbäch. Sie habe Verständnis für die Proteste, da die Politik die Landwirtschaft in den vergangenen 40 Jahren vernachlässigt habe.

Bei der nächsten EU-Wahl im Juni tritt Wiener nicht mehr für die österreichischen Grünen an. Ein Grund: Sie brauche wieder mehr Freiheit und weniger Beamtentum, mehr Spaß und weniger Anfeindungen. Sie berichtet von Morddrohungen und dass sie lieber mal wieder ein Lächeln ernten möchte für ihre Arbeit.

Unappetitliche Einblicke in die Nahrungsmittelindustrie

Als Verhandlungsführerin im EU-Parlament gibt sie Einblicke in nervenzehrende Diskussionen über das Verbot von hochgefährlichen, krebserregenden Pestiziden, bei der sie nicht ganz erfolgreich gewesen und an ihre Grenzen gestoßen sei. Sie gibt eher unappetitliche Einblicke in die Nahrungsmittelindustrie, spricht über Hochleistungsenzyme, die in Teiglingen vorkommen und nicht als Zusatzstoffe deklariert werden müssen. Und das nur, damit die Backwaren billiger werden.

Weiter geht es um den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit und den Fakt, dass heute Jugendliche unter Erkrankungen leiden, die es in den 1980ern in der Altersstufe noch nicht gegeben habe.

Und dann kommt Paul Ivić zu Wort. Er wird durch eine persönliche Krise zum Gemüsekoch. Als Jugendlicher will er eigentlich Comiczeichner werden, dafür hätte er als Tiroler aber nach Wien gehen müssen und das geht aus Gründen, die man nur in Österreich versteht, leider nicht. Also schlägt er mit 14 Jahren eine Kochlaufbahn ein, die ihn ihn erst in die Depression führt.

Als Koch sei er ein Getriebener gewesen: 30 bis 40 Espresso am Tag, dazu Red Bull und eine halbe Flasche Whiskey und jede Menge halb gefrorener Tiefkühlpizza und Aufschnitt, dazu 100 Stunden Arbeit pro Woche: Diese nicht ganz so gesunde Mischung habe ihn dann richtig krank gemacht.

Der Koch haut die Bremse rein

Dazu sei es ihm in dieser Phase seiner Laufbahn als Koch nur um die Marge gegangen. Er spricht von günstigem Gulasch, das nach Penicillin schmeckt und über Fleisch aus Massentierhaltung, das in der Küche einen ähnlichen Duft mit sich bringe wie der Windel-Inhalt seines Sohnes nach einer Antibiotika-Kur.

Ivić haut als Koch die Bremse rein und ändert seine Ernährung und die Art, wie er arbeitet. Heute kauft er anders ein und bekocht seine Gäste anders, vegetarisch und auch vegan, denn als Koch habe er den weißen Kittel quasi von den Ärzten geerbt. Er wolle seine Gäste durch seine Speisen ja nicht krank machen. „Wir als Gastronomen haben die Verpflichtung, unseren Gästen giftfreies Essen zu servieren. So einfach ist es.“

Die Kontrolle über die Lebensmittel verloren

Sarah Wiener stimmt ihrem Landsmann zu: „Niemand hat gesagt, ich will 80 verschiedene Gifte in meinem Körper und in meiner Muttermilch.“ Die Menschen hätten die Kontrolle und die Wahl über ihre eigenen Lebensmittel verloren, sagt sie, und Ivić ergänzt: „Die Industrie hat kein Interesse daran, dass wir uns gut und gesund ernähren. Industriefood ist kein Essen und das wird tagtäglich in den Kitas und Schulen serviert.“

Ein Herzensthema beider Gäste: die richtige Ernährung der Kinder. Bei Erwachsenen sei es zu spät, sagt Ivić – die würden sich in ihrer Freiheit bedroht fühlen. Sarah Wiener setzt mit ihrer Stiftung schon länger in Schulen und Kindergärten an und bildet Pädagogen aus, Kindern gesunde Ernährung näherzubringen. Damit schon die Jüngsten lernen, was Schnittlauch ist und was mit einer Pastinake gekocht werden kann.

Der eigene Gemüsegarten als Anregung

Überhaupt, Gemüse: Wenn Paul Ivić von Kohlrabi in seinem Restaurant schwärmt, erntet er im Publikum Zustimmung. „Das gesündeste Essen kommt aus dem eigenen Garten“, erklärt er, und erhält noch mehr Kopfnicken. Es scheint den einen oder anderen in den Fingern zu jucken, nach der Veranstaltung direkt den eigenen Gemüsegarten zu planen.

Sarah Wiener freut sich derweil, „jemanden zu treffen, der fast noch ein Stück radikaler ist als ich.“ Und wie im Flug ist die erste Stunde der Veranstaltung vergangen und es hagelt zum Nachtisch des emotionalen Mehr-Gänge-Menüs Fragen aus dem Publikum, bei denen den Gästen auf dem Podium des „Treffpunkt Foyer“ noch mal richtig auf den Zahn gefühlt wird.

Es geht unter anderem um die Frage, wie man als Verbraucher auch mit kleinem Geldbeutel richtig einkaufe, und ob man aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers den heutigen Standard der Lebensmittel nicht zu sehr verteufelt habe. „Nein“, findet Ivić, der übrigens, kleine Werbeeinblendung, im Herbst ein neues Kochbuch veröffentlicht.

Sarah Wiener wiederum will das Publikum nicht ganz so deprimiert in die Winternacht nach Hause schicken: „Wenn das Schnitzel mit Liebe zubereitet wurde, ist es zwischendrin okay. Liebe schlägt alles“, sagt die 61-Jährige, und gibt ihren Gästen zum Abschied einen Auftrag mit: „Wenn Sie echte Revolutionäre sein wollen, bringen Sie ihren Nachbarskindern, ihren Freunden, ihren Verwandten Kochen bei.“ Wenn das kein Ziel fürs immer noch junge 2024 ist.