„So lange noch eine Chance besteht, dass jemand überlebt hat, wird gesucht und wenn möglich gerettet, übrigens unabhängig davon, welche Kosten dabei entstehen“, sagt Bergretter Kurt Lauber. Foto: privat

Der Schweizer Bergretter Kurt Lauber appelliert an das Verantwortungsbewusstsein von Wintersportlern. Zu viele würden sich auf die moderne Ausrüstung verlassen und unterschätzten deshalb die Risiken.

Stuttgart - Acht Skikläufer sind bei Lawinen in verschiedenen Regionen Norditaliens ums Leben gekommen. Sie waren alle abseits der Piste unterwegs, erklärte die Bergrettung am Montag. Sechs von ihnen seien im Aostatal gestorben, ein 18-Jähriger in der Provinz Bozen, ein weiterer Lombardei.

Wir sprachen mit dem Bergführer Kurt Lauber aus dem schweizerischen Zermatt über die Aufgaben der Bergrettung und die Gefahren für Skifahrer in den Alpen.

„Das Risiko für die Bergretter wird so klein wie möglich gehalten“

Herr Lauber, was bedeutet der Winter grundsätzlich für die Bergrettung?

Es können Lawinen auftreten und Unfälle passieren, das ist klar. In unserem großen Gletschergebiet am Matterhorn kommen dazu immer wieder Spaltenstürze vor. Ein weiteres großes Thema sind Vermisstmeldungen von Skifahrern und Tourengehern, die abends nicht zurückkommen.

Wie entscheidet die Bergrettung bei einem Notfall, ob sie einen Einsatz wagen kann?

Grundsätzlich wird das Risiko für die Bergretter so klein wie möglich gehalten. Der Hubschrauber-Pilot entscheidet über die flugtechnischen Risiken bei schlechtem Wetter oder starkem Wind, während der Bergführer und der Arzt das eigene Risiko bei Lawinen- oder Steinschlaggefahr bewerten. Wenn einer von den Dreien das Gefühl hat, dass der Einsatz nicht wie geplant funktionieren kann, dann muss man den Plan ändern und beispielsweise versuchen, den Unfallort per Bergbahn oder zu Fuß zu erreichen statt mit dem Hubschrauber.

In der ZDF-Fernsehserie „Der Bergdoktor“ geschah vor kurzem folgendes: Zwei Skifahrer wurden von einer Lawine verschüttet. Die Bergretter stocherten mit langen Stöcken im Schnee, um nach den Vermissten zu suchen. Aber bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Abbruch des Einsatzes beschlossen. Ist das realistisch?

So lange noch eine Chance besteht, dass jemand überlebt hat, wird gesucht und wenn möglich gerettet, übrigens unabhängig davon, welche Kosten dabei entstehen. Erst im Nachhinein wird entschieden, wer für einen Rettungseinsatz aufkommt. Aber natürlich gibt es irgendwann einen Punkt, an dem man feststellen muss, dass es keine Chance mehr auf Überlebende gibt. Dann muss man die Suche abbrechen.

Woran sterben die Opfer einer Lawine eigentlich?

Die meisten Opfer atmen feinen Schneestaub ein und ersticken daran. Wenn jemand nicht gleich erstickt, liegt er im Schnee wie einbetoniert. Sogar wenn man unter dem Schnee eine Atemhöhle hat, vergiftet man sich selber mit dem CO2, das man ausatmet.

Sind Skifahrer heutzutage eigentlich bereit, ein höheres Risiko einzugehen als vor 25 Jahren?

In den letzten Jahren sind die breiten Freeride-Ski aufgekommen. Deshalb sind viel mehr Leute abseits der Piste unterwegs, auch viele, die die Gefahren gar nicht kennen. Ein Restrisiko gibt es immer. Aber wenn man weiß, wo die Gefahren, zum Beispiel Lawinen, lauern, ist es nicht so groß. Ich als Bergführer fahre den ganzen Winter abseits der Piste. Und ich habe nicht das Gefühl, dass ich dabei Kopf und Kragen riskiere. Aber es gibt Leute, die es einfach nicht besser wissen, und die an Orten fahren, an denen man nicht fährt. Das ist nicht so gut.

Wenn jemand versucht, im Sommer mit Stöckelschuhen einen Dreitausender zu besteigen, handelt er fahrlässig. Wo beginnt im Winter im Tiefschnee die Fahrlässigkeit?

Wenn jemand versucht, mit einer guten Ausrüstung aber ohne Bergerfahrung einen Dreitausender zu besteigen, dann ist das genauso gefährlich wie mit High Heels. Die große Gefahr im Schnee besteht darin, dass viele den Spuren anderer hinterherfahren, ohne zu wissen, wer da eigentlich vor ihnen gefahren ist. So fängt das Unglück an. Ohne die entsprechende Erfahrung sollte man sich schon sehr gut überlegen, eine markierte Piste zu verlassen

Halten Sie eine Art Führerschein für Skifahrer für sinnvoll?

Nein. Man muss einfach sehen, dass die Natur größer ist als der Mensch. Jeder Volljährige hat Eigenverantwortung, und ich glaube, das muss auch so sein, denn die Bevormundung außerhalb der Natur ist schon relativ groß. Jeder müsste eigentlich selber entscheiden können, was gut und was weniger gut ist. Mit Vorschriften erreicht man da nichts.

Beim Bergsteigen gibt es Zeitgenossen, die den Rücktransport vom Gipfel mit dem Hubschrauber der Bergrettung einkalkulieren. Kommt es beim Skifahren abseits der Piste zu vergleichbarem Verhalten?

Indirekt gibt es das durchaus: Wenn jemand in einer Lawine verschüttet wird, kommt die Bergrettung, die im besten Fall 20 Minuten nach dem Niedergang am Einsatzort eintrifft, in der Regel zu spät. Aber die Leute vertrauen dennoch ihrer Ausrüstung, also Lawinenverschüttungs-Suchgeräten oder Westen, die sich aufblasen, wenn man zieht. Viele erhoffen sich davon zu viel. Eine derartige Ausrüstung ist keine Rechtfertigung dafür, dass man zu viel riskieren darf.

Unlängst mussten in Bad Tölz Spaziergänger im Wald gerettet werden. Die Bergrettung hat daraufhin an alle appelliert, nicht mehr im Wald spazieren zu gehen. Wie trifft die Bergrettung derartige Entscheidungen?

Zermatt zum Beispiel hat einen Lawinendienst: Sobald die Lawinenstufe groß ist, und es effektiv gefährlich wird, werden Wanderwege gesperrt. Das geht bis zur Empfehlung, die Häuser nicht zu verlassen. Und was den Wald betrifft: Durch die Schneelast können die Bäume knicken – eine große Gefahr für Wanderer, die von Wanderern jedoch nicht immer als solche wahrgenommen wird.

Info: Zur Person

Kurt Lauber (57) ist 25 Jahre lang stellvertretender Leiter der Bergrettung Zermatt gewesen. Bis 2014 hat er mehr als 1000 Einsätze absolviert und als Bergführer den Gipfel des Matterhorns hunderte Male erklommen. Im Winter arbeitet er als Skiführer. Wenn man ihn im Januar um 14 Uhr anruft, wird man freundlich mit der Formel „Guten Abend“ begrüßt.

Ein Vierteljahrhundert lang betrieb Lauber in den Sommermonaten die Hörnlihütte am Fuß des Matterhorns. Über seine Erfahrungen dort veröffentliche er 2012 das Buch „Der Wächter des Matterhorns“. Seit Juli 2018 betreibt er die Mountain Lodge Ze Seewjinu auf 2300 Meter, ebenfalls in der Nähe von Zermatt.