Der frühere Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse ist beeindruckt von der Widerstandskraft der Ukraine. Foto: Hans-Lothar Domröse

Hans-Lothar Domröse, mehr als drei Jahre an der Spitze eines der wichtigsten Nato-Kommandos, beschreibt, wo das Bündnis Nachholbedarf aufweist – und warum sich der Krieg in die großen Städte verlagern wird.

Mehr als drei Jahre führte er das Oberkommando der Nato in Brunssum. Jetzt deutet Hans-Lothar Domröse die Kriegsbilder in der Ukraine und im Gazastreifen. Außerdem spricht er in diesem Interview über „die taktisch-operative Dämlichkeit der Russen“.

Herr Domröse, sehen wir in der Ukraine das Schlachtfeld der Zukunft oder sehen wir eines, das noch stark dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verhaftet ist – plus Drohnen plus Elektronische Kampfführung?

Wir haben die Gleichzeitigkeit beider Szenarien: Zukunft und Vergangenheit. Für die Vergangenheit stehen die Kämpfe um Bachmut. Das ist Weltkrieg eins: Schlachten auf nächste Nähe und fürchterliches Sterben. Auf der anderen Seite sehen wir neue Technologie, etwa Drohnen, die auch eine neue Wirkung entfalten, weil sie sich unbemerkt von oben auf ihr Ziel stürzen und es zerstören. Dabei erkennen wir, dass unsere Panzer überall stark sind, bloß nicht oben. Neu ist im weitesten Sinne auch das elektromagnetische Feld als Faktor im Kampf. Hier ist beispielsweise Starlink zu nennen. Es hilft, Daten zu verknüpfen und zielgenau zu wirken.

Was in der Ukraine und zuletzt auch in Bergkarabach als Kriegsbild sichtbar wurde – inwieweit ist die Nato dafür gewappnet?

Was wir noch zu wenig haben und dringend brauchen, ist Nah- und Nächstschutz gegen Drohnen, der in schon bestehende Waffensysteme integriert ist. Erst dieser Schutz in einem Wirkbereich von bis zu acht Kilometern gibt uns die Freiheit zu operieren. Für den Nahbereich sind das Systeme, die Schrot-Ähnliches ausstoßen, das anfliegende Objekte zur Explosion bringt oder mit elektromagnetischer Strahlung ablenkt. Bei Flugzeugen nennt man das Flares.

Der Krieg in der Ukraine hat sich in einer Pattsituation verfestigt. Was brauchen Streitkräfte heute, um sich gegen ähnlich gerüstete Gegner durchzusetzen?

Dazu braucht man drei Dinge: erstens, Informationsüberlegenheit. Voraussetzung ist auch, die schier unendliche Menge an gesammelten Daten so zu komprimieren, dass man Informationsüberlegenheit in zweitens, Wirkungsüberlegenheit verwandeln kann. Da sehen wir einige schöne Erfolge der Ukrainer, leider auch der Russen: Sie haben jeweils Gegner mit Abstandswaffen ausgeschaltet, bevor sich diese sammeln konnten. Was die Ukrainer leisten, ist sehr beeindruckend. Sie haben es geschafft, die russische Schwarzmeerflotte so weit auszuschalten, dass sie praktisch keine Rolle mehr spielt. Das zeigt drittens: Führungsüberlegenheit und gut ausgebildete Soldaten machen den Unterschied.

Was ist wichtiger – die Masse an Waffen oder die Qualität des einzelnen Waffensystems?

Ausschlaggebend ist, die Systeme eines Gegners bis zu dessen Handlungsunfähigkeit sättigen zu können. Das haben die Russen über die Weihnachtstage vorgemacht. Experten sagen, sie haben über zwei Monate produzierte Waffen in kurzer Zeit aus der Luft eingesetzt, weil sie auch dazugelernt haben. In dem Sinn: Ich kann diese wunderbaren westlichen Luftverteidigungssysteme nur überwinden durch Übersättigung. Also, wenn ich mehr als hundert Flugkörper fast gleichzeitig verschieße, kommen zwei durch. Die richten großen Schaden an und hinterlassen genau das Unsicherheitsgefühl, das Menschen zermürbt.

Was sind vor diesem Hintergrund Stärken und Schwächen der Nato?

Die Nato ist insgesamt stark. Sie hat insgesamt mehr als eine Million Soldaten – natürlich in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen. Und wir haben High-Tech-Systeme. Was wir wirklich können, sind Weltraum, Cyber und Luftmacht. Letztere macht uns unglaublich reaktionsschnell. Die Nato hat etwa 21000 Flugzeuge. Außerdem verfügt sie über viele unbemannte Systeme, die lange in der Luft bleiben und mit intensiver Aufklärung ein Lagebild erstellen und direkt wirken können. Zusammen mit den Land- und Seestreitkräften sind wir absolut handlungsfähig. Das ist unsere große Überlegenheit.

War das nicht auch von Russland zu erwarten?

In der Tat, Ähnliches hatte ich von den Russen erwartet. Zumal sie von der belarussischen Grenze bis Kiew nur etwa 80 Kilometer zu überwinden hatten. Sie haben es nicht hinbekommen. Das spricht für die Widerstandskraft der Ukrainer. Das spricht auch für die taktisch-operative Dämlichkeit der Russen, ihre Kräfte nicht konzentriert einzusetzen.

Im Gazastreifen zeigt sich eine neue Dimension von Kampf in Städten. Ein Sonderfall, oder muss sich die Nato, muss sich die Bundeswehr auf so etwas einstellen?

In Städten wie Bachmut, Gaza-Stadt oder auch Charkiw sehen wir, genau da wird der Kampf gesucht. Da kann man untertauchen und plötzlich wieder auftauchen. Wir müssen die Augen aufmachen und zur Kenntnis nehmen: Städte sind riesige Gebirge, in denen auch in Zukunft Kampf stattfinden wird. Man kann sie nicht schutzlos lassen. Wenn ich mir Megastädte wie Schanghai, Paris oder Lagos anschaue, ist mir schleierhaft, wie man die verteidigen kann, ohne ihre Zerstörung in Kauf zu nehmen. Was unsere Eltern- und Großelterngeneration in Dresden oder Köln erlebt hat – so etwas müssen wir uns leider wieder vorstellen.

Wie gut ist Deutschland darauf vorbereitet?

Ich lebe in Oldenburg. Die Stadt hat rund 180000 Einwohner. Es gibt keine U-Bahn, in der man sich verstecken kann, es gibt angeblich zwei Bunker. Davon soll einer verkommen und der andere unbrauchbar sein. Wenn ich das Kriegsbild in der Ukraine und im Nahen Osten richtig deute, geht es zurück zu schrecklichen Zeiten. Auch müssen wir uns auf lange Kämpfe einstellen. Blitzkriege oder Sechs-Tage-Feldzüge sind vorerst vorbei.

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat deswegen gesagt, Deutschland müsse kriegstüchtig werden. Wagen Sie eine Prognose, wie viele Jahre das Land dafür braucht?

Die Amerikaner haben nach der Niederlage in Vietnam 20 Jahre gebraucht, eine völlig neue, schlagkräftige Armee aufzubauen. Wir stehen glücklicherweise nicht im Kampf, aber das dauert ganz sicher länger als zehn Jahre. Das ist kein Grund, nicht jetzt damit anzufangen. Beschaffungen und Training, Haltung und Opferbereitschaft ergänzen sich. Und muss man einen militärischen Konflikt auch gewinnen wollen.