Neukölln in dieser Woche: Randalier attackierten Polizisten mit Feuerwerkskörpern. Foto: dpa

Silvesterkrawalle, Randale im Freibad, nun Straßenschlachten mit der Polizei. Berlins wohl berüchtigtster Bezirk macht oft die gleichen Schlagzeilen. Über einen komplizierten Stadtteil.

Wer im Nieselregen des Freitagmorgens über die Sonnenallee geht, der sieht keine Spuren der vergangenen Nächte. Hunderte Menschen rotteten sich zusammen, warfen Steine, Flaschen und Böller auf Polizisten, verletzten über 60 von ihnen. Es sind auch keine Mülltonnen mehr zu sehen, die hier als brennende Barrikaden aufgestellt wurden. An eine Hauswand hat jemand eine Palästina-Fahne gesprüht, ein anderer hat sie durchgestrichen. Die Palästina-Flagge hängt auch an ein paar wenigen Schaufenstern, etwa am Café Salam, das an diesem Freitag geschlossen ist.

Die Sonnenallee liegt in Berlin-Neukölln. Immer wieder gerät dieser Bezirk in die Schlagzeilen, allein in diesem Jahr durch die Krawalle an Silvester, dann durch Randale in einem Freibad. Jetzt schaut Deutschland wieder hin, erneut wird randaliert, manche feierten sogar die Morde der Hamas an Israelis. Man fragt sich: Warum immer wieder Neukölln?

Kaum jemand kennt den Bezirk so gut wie Kazim Erdogan. Er hat den Verein „Aufbruch Neukölln“ gegründet, der sich sozial im Bezirk engagiert. Für seine Arbeit verlieh ihm Bundespräsident Joachim Gauck 2012 das Bundesverdienstkreuz. Er ist gerade im Urlaub in der Türkei, beobachtet die Lage in Neukölln aber genau. Woher kommen die Gewaltausbrüche? „Für viele junge Männer ist es ein Hilfeschrei. Sie wollen beachtet werden – im Zweifel lieber negativ auffallen als gar nicht“, sagt er am Telefon.

Medien schauen vor allem dann auf Neukölln, wenn Schlechtes passiert. Von den Silvesterrandalen bekamen viele Menschen etwas mit. Dass sich Restaurantbesitzer später mit angegriffenen Polizisten solidarisierten und Spenden sammelten, nicht. Das negative Image des Bezirks wirkt auch auf das Selbstbild der Bewohner, sagt Erdogan. „Viele kennen die positiven Vorbilder nicht, die Polizeikommissare, Ärzte und Richter mit Migrationshintergrund – auch die gibt es ja längst.“

Ein Polizeigewerkschafter mahnt zur Differenzierung

Und der Hass auf Juden und auf Israel? Erdogan sagt, es sei ein „teuflisches Viereck“ am Werk: fundamentale religiöse Einstellungen, ein starker Nationalismus, Denkweisen, die von einer Generation an die andere weitergegeben werden, Druck des Umfelds und der Ereignisse, sich zu positionieren – in diesem Fall gegen Israel, gegen die Juden. „Dort auszubrechen fällt schwer“, sagt er.

Auch Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei in Berlin beschäftigt sich immer wieder mit Neukölln. Er rät zur Differenzierung: „Man kann nicht einfach mit dem Finger auf Neukölln zeigen und alle Menschen mit Migrationshintergrund in eine Schublade packen. Schwere Silvesterrandale hatten wir auch in anderen Bezirken, bei den Krawallen der vergangenen Tage kam auch Unterstützung aus der linksextremen Szene.“ Und: „Die Angriffe und andere Straftaten kamen von ein paar Hundert – in Neukölln aber leben mehr als 300 000.“

„Veränderung ist schwer. Wenn mir seit meiner Kindheit eingeflößt wird, Israel gehört vernichtet, dann wird mich auch ein Sozialarbeiter nicht wirklich überzeugen“, sagt Jendro. Es sind einige, die den Terror der Hamas offen feiern – wie viele jubeln still mit? Wie viele lehnen ihn ab? Fragt man Menschen aus der migrantischen Community, wollen viele lieber gar nichts sagen.

Auf Instagram postet das Café Salam auf der Sonnenallee, man werde an diesem Freitag nicht öffnen. „Aus Solidarität mit unseren Brüdern und Schwestern in Gaza schließen wir uns dem Generalstreik an,“ heißt es dort. Salam ist arabisch, übersetzt bedeutet es „Frieden“.

„Neukölln ist überall“, heißt ein Buch des früheren Neuköllner Bürgermeisters Hans Buschkowsky (SPD). Es entwickelte sich zum Bestseller. Manche, die den Bezirk gut kennen, sagen: Es ist genau andersherum. Neukölln sei wie ein Brennglas. Soziale Probleme, gescheiterte Integration – all das zeigt sich hier. Deswegen schaue man auf den Bezirk. Dass es demnächst ruhiger wird, damit rechnen wenige. Die Lage im Nahen Osten droht zu eskalieren, in zweieinhalb Monaten ist Silvester. Und Deutschland wird auf Neukölln blicken. Wieder einmal.