Leere Ränge bei der Videokonferenz: Auch im zweiten Halbjahr könnten sie noch die Regel sein. Foto: dpa/Dario Pignatelli

Wegen der Abstandsregelungen wird auch im zweiten Halbjahr nur ein Drittel der üblichen Sitzungen in Brüssel stattfinden können. Noch viele Fragen sind offen für die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland.

Brüssel - Zum zweiten Mal in der Geschichte übernimmt Deutschland turnusgemäß Ende Juni die Ratspräsidentschaft in der EU. Damit führt die Bundesregierung für sechs Monate die Geschäfte im EU-Ministerrat, der in Brüssel in einem vergleichsweise neuen Gebäude gegenüber von der Kommission tagt. Die Bundesregierung hat sich lange auf die Übernahme der Ratspräsidentschaft vorbereitet. In der Ständigen Vertretung in Brüssel, wo Diplomaten und Beamte der Bundesministerien die Gesetzgebungsarbeit in der EU begleiten, wurden 100 Mitarbeiter zusätzlich eingestellt. Künstler wurden für ein Kulturprogramm verpflichtet. Die Bundesregierung hat Planungen entwickelt, wie sie Bewegung in wichtige EU-Themen bringen kann.

Fahrplan liegt in Trümmern

Seit Mitte März, als nicht nur in Brüssel, sondern EU-weit radikale Kontaktbeschränkungen verhängt wurden, ist klar: Der ursprüngliche Fahrplan der Bundesregierung liegt in Trümmern. EU-Botschafter Michael Clauß schickte bereits vor einiger Zeit einen Brandbrief ans Kanzleramt und warnte davor, dass an einen regulären Sitzungsbetrieb auch im zweiten Halbjahr nicht zu denken sei. Wegen der Abstandsregelungen könnten nur die großen Säle im Ratsgebäude für physische Treffen genutzt werden. Vermutlich könnte deswegen nur ein Drittel der ursprünglich geplanten Sitzungen in Brüssel stattfinden. Alle anderen müssten über Videokonferenzen laufen. Inzwischen hofft man immerhin, dass das turnusgemäß im Juni angesetzte Treffen der Staats- und Regierungschefs erstmals wieder persönlich stattfinden könne. Diplomaten und Politiker haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit an Gesetzestexten über Videokonferenzen deutlich schwieriger ist.

„Radikale Reduzierung der Themen“

Der Ministerrat ist zusammen mit dem EU-Parlament Gesetzgeber in der EU. Das heißt: Alle Vorschläge, die die EU-Kommission für EU-Gesetze macht, müssen sowohl im Parlament als auch im Ministerrat behandelt und abgestimmt werden.

Eine Ratspräsidentschaft gibt der Regierung des Landes, das sie ausübt, durchaus Einflussmöglichkeiten. Sie entscheidet etwa über die Tagesordnung und damit darüber, welche Gesetzgebungsvorhaben am dringendsten behandelt werden müssen. In seinem Schreiben ans Kanzleramt hatte Clauß die Bundesregierung zum Umdenken aufgefordert: Eine „radikale Reduzierung und Priorisierung der Themen“ seien unumgänglich.

Inzwischen haben sich die Bundesministerien verständigt: An erster Stelle soll das Management der akuten Krise stehen. Es muss darum gehen, die Einschränkungen im Binnenmarkt aufzuheben, die Reisefreiheit wiederherzustellen und die Wirtschaft ans Laufen zu bekommen. Der dickste Brocken wird wohl der nächste EU-Haushalt werden. Vermutlich gelingt es bis Juli nicht mehr, eine Einigung zwischen den EU-Mitgliedsländern über den mehrjährigen EU-Haushaltsrahmen herzustellen. Zumal es neuen Stoff für Verhandlungen gibt, weil der mehrere Billionen Euro schwere Wiederaufbaufonds, auf den sich die „Chefs“ vor wenigen Tagen geeinigt haben, auch Teil des EU-Haushaltes werden soll. Dazu kommen die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über die gegenseitigen Beziehungen in der Zeit nach dem Ende des Jahres auslaufenden Übergangsphase. Schon zeichnet sich ab, dass diese Verhandlungen unter enormem Zeitdruck ablaufen. London hat wissen lassen, dass es an einer Verlängerung kein Interesse habe. Danach kommen dann die Themen, die in normalen Zeiten ganz oben auf der Agenda gestanden hätten: Die Umsetzung des Green Deal - für den Umbau der europäischen Volkswirtschaft zu mehr Klimaschutz sind zahlreiche Gesetzgebungsvorhaben in der Pipeline - sowie die Einigung über eine Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Mitgliedstaaten.