Gesprächsrunde in der Leonhardskirche: „Politiker hören zu“ heißt das neue Format in der Vesperkirche, bei dem Langzeitarbeitslose und arme Menschen den gesetzlichen Vertretern ihre Nöte schildern können. Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

„Betroffene berichten – Politiker hören zu“ heißt das neue Format in der Vesperkirche. Vier Langzeitarbeitslose haben ihre Nöte geschildert und Forderungen an die Politiker formuliert.

Stuttgart - Sieglinde benötigt dringend Medikamente. Die 50 Euro dafür hat sie beim Jobcenter beantragt. Es wurde abgelehnt. Selbst leisten kann es sich die Stuttgarterin, die seit mehreren Jahren Hartz IV bezieht, nicht. Sie schämt sich für ihre Situation, möchte ihren Nachnamen daher nicht in der Zeitung lesen. Jan Frier träumt seit Jahren von einem Wochenende am Bodensee: „Nichts Großes, einfache Unterkunft, einfach mal etwas anderes sehen.“ Aber um wegzufahren müsse er ewig mit dem Amt diskutieren. Mit welchen Problemen kämpfen langjährige Arbeitslose täglich? Was könnte ihr Leben ein bisschen besser machen? Meistens finden die Menschen am Rande der Gesellschaft kaum Gehör. Sie haben keine Lobby.

Langzeitarbeitslose diskutieren mit Politikern aller Ebenen

Deshalb haben die Verantwortlichen der Stuttgarter Vesperkirche um Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann und Martin Tertelmann vom Sozialunternehmen Neue Arbeit in diesem Jahr das Format „Politiker hören zu“ ins Leben gerufen. Am Montagabend saßen vier Langzeitarbeitslose mit der Landtagsabgeordneten Brigitte Lösch (Grüne) aus Stuttgart, der Bundestagsabgeordneten Ute Vogt (SPD, Stuttgart) und den Stadträten Thomas Adler (Die Linke) und Markus Bott (CDU) in der Leonhardskirche zusammen – moderiert von Uschi Götz, Journalistin beim Deutschlandfunk.

Das Prinzip: Die Politiker durften erst lediglich zuhören, die Arbeitslosen schilderten ihre Situation. „Mein Nachbar sagt, er habe dieses Jahr kein Geld, er mache ‚nur’ Urlaub in der Türkei“, erzählt Jan Frier, 59 Jahre, nach langjähriger Tätigkeit beim Sparkassenverlag seit 2003 fast durchweg arbeitslos. „Wenn ich sage, ich habe kein Geld, dann kann ich mir nicht mal eine Fahrtkarte oder ein Päckchen Wurst für 89 Cent beim Lidl kaufen.“

Hans-Georg Schwabe, 64 Jahre, irgendwann nach Ghana ausgewandert, dort erst reich gewesen und am Ende so arm, dass die Deutsche Botschaft ihm das Geld für den Rückflug leihen musste. Irgendwann sei er in der Notunterkunft an der Hauptstätter Straße 150 gelandet. „Da ist man ganz unten aufgedatscht im Leben“, sagt er. Er hätte depressiv oder wütend auf die Gesellschaft werden können, aber was hätte das genützt?

Arbeit wird in der Gesellschaft immer noch zu sehr über Gewinn definiert

Stattdessen hatten die vier durchaus Forderungen an die Politiker: Ein höherer Hartz-IV-Satz, geeignetere Qualifizierungsmaßnahmen statt nur Lebensläufe tippen lernen, keine Sanktionen durch das Amt – und eine gerechtere Gesellschaft, die auch Arbeit wertschätzt, die nicht nur möglichst viel Profit bringt. „Arbeit wird nur über Erwerbsarbeit definiert“, sagt Luise Janke, die nach Jahren der Arbeitslosigkeit über die Neue Arbeit eine Tätigkeit gefunden hat. „Und ALG II reicht nicht mal für das nötigste“, ergänzte Sieglinde. Frier hält ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Lösung. Das nehme den Druck von den Leuten.

Die Landtagsabgeordnete Lösch zeigte sich gegenüber der Idee eines Grundeinkommens skeptisch: „Es ist ein gutes Modell, aber man muss eben genau hinschauen, auch auf die Konsequenzen.“ Auch Vogt sieht darin kein Allheilmittel, sie befürwortet einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt.

Die Agenda 2010 empfinden viele als Schritt in die falsche Richtung

Die Gesetzgebung der Agenda 2010 müsse rückgängig gemacht werden, forderte Stadtrat Adler. „Die Gesprächsrunde hat gezeigt, was für ein falsches, skandalöses Zerrbild von irgendwelchen Florida-Rolfs die sich in die soziale Hängematte werfen, gezeichnet wurde.“ Die Jobcenter bräuchten mehr Personal, müssten mehr sensibilisiert werden. Dafür will er sich im Gemeinderat einsetzen.

Und Stadtrat Bott fand es „ein hartes Thema“ und gab deshalb letztlich zumindest ein Versprechen ab: Er wolle im städtischen Sozialausschuss verstärkt Langzeitarbeitslose zu Wort kommen lassen. Und: „Jedes Jahr kommt ein Bericht vom Jobcenter, ein dickes Buch. Das lesen wir künftig im Detail und überfliegen es nicht mehr nur.“