Weil in einer chinesischen Fabrik verunreinigtes Valsartan hergestellt wurde, könnte in Deutschland die Versorgung mit dem Wirkstoff beeinträchtigt werden. Foto: dpa

Weil in China eine Fabrik einen verunreinigten Wirkstoff produzierte, müssen Apotheken weit verbreitete Blutdrucksenker zurückrufen. Die Folgen solcher Pannen werden größer.

Stuttgart - Hubert Reus (Name geändert) leidet unter hohem Blutdruck und nimmt seit Jahren jeden Morgen eine Tablette mit dem verschreibungspflichtigen Wirkstoff Valsartan. Entsprechend alarmiert war er, als er davon hörte, dass große Mengen dieses Wirkstoffs bei der Herstellung mit der krebserregenden Substanz NDMA verunreinigt wurden und in den Handel gelangten. Der Besuch in der Apotheke brachte ihm Gewissheit: Auch er nahm Tag für Tag verunreinigte Tabletten – und das möglicherweise schon seit Jahren. Die Apothekerin versuchte noch, seine Ängste zu zerstreuen: Über die Menge des Giftstoffs wisse man noch nichts – und schließlich enthalte auch eine Bratwurst solche Stoffe, vielleicht sogar in noch höherer Menge. Doch auf seinen Einwand, wenn man nichts Genaues wisse, könne die Menge ja auch hoch sein, vor allem, wenn man die Tabletten seit Jahren einnehme, fiel ihr kein überzeugendes Gegenargument ein.

Die Krankheit

Bluthochdruck gehört zu den weit verbreiteten Krankheiten in Deutschland. Valsartan blockiert im Stoffwechsel die Wirkung einer Substanz, die Gefäße verengt, und verringert dadurch den Widerstand, gegen den das Herz bei jedem Schlag ankämpfen muss. Laut Arzneiverordnungs-Report der AOK wurden im vergangenen Jahr allein in Deutschland 1,1 Milliarden Tagesdosen Valsartan abgegeben – bei 365 Tagesdosen pro Patient entspricht das rund drei Millionen Menschen, die jeden Tag solche Tabletten einnehmen. Die meisten Firmen, die die rezeptpflichtigen Valsartan-Präparate in Deutschland anbieten, haben sich beim chinesischen Chemiekonzern Zheijang Huahai Pharmaceutica mit dem Wirkstoff eingedeckt, der bereits vor Jahren die Herstellung des Wirkstoffs so veränderte, dass als Nebenprodukt NDMA anfiel. Dieses gehört zu den sogenannten Nitrosaminen, die laut Bundesinstitut für Risikobewertung als wahrscheinlich krebserregend gelten und vor allem Magen, Leber, Nieren, Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse, Gallen- und Harnblase angreifen können.

Die Lieferanten

Doch wie kann es sein, dass keiner der rund 20 Hersteller in Deutschland, die ihren Wirkstoff vom gleichen Zulieferer beziehen, die jahrelangen Verunreinigungen bemerkt hat? Nach Ansicht von Fritz Becker, Präsident des Landesapothekerverbands Baden-Württemberg, zeigt der Fall des Blutdrucksenkers, dass sich die Hersteller auf Bescheinigung ihrer Zulieferer „nicht unbedingt verlassen können“. Es sei sicher nicht zu viel verlangt, dass die Hersteller des Endprodukts die Zulieferungen auch durch eigene Kontrollen überwachen, so Becker, der auch dem Deutschen Apothekerverband vorsteht.

Die Qualität der Zulieferungen werde schon heute umfassend kontrolliert, erklärt dagegen der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) – durch Behörden ebenso wie durch die Hersteller. Die Produzenten in Indien und China müssten den gleichen Anforderungen entsprechen wie die in anderen Ländern auch. Es gebe daher „keinen Grund, produzierende Unternehmen allein aufgrund ihrer geografischen Lage als besser oder schlechter einzustufen“.

Die Versorgung

Theoretisch müsste die Einbeziehung weiterer Lieferanten die Zuverlässigkeit der Versorgung verbessern, weil sie die Abhängigkeit der Abnehmer verringert. Doch tatsächlich geht der Aufbau von Kapazitäten in Asien einher mit einem Abbau in Europa. „Wir haben einen weltweiten Trend zu Oligopolen“, sagt Becker und meint damit die Konzentration des Weltmarktes auf einige wenige Anbieter. Heute reiche es bereits aus, dass einer von ihnen ausfällt, um die weltweite Versorgung ins Wanken zu bringen.

Das zeigte sich auch beim weit verbreiteten Schmerzmittel-Wirkstoff Ibuprofen. Der Ausfall einer BASF-Fabrik in den USA habe zu einer weltweiten Verknappung der Produktionskapazitäten geführt, die noch zu echten Versorgungsengpässen führen könne. Und aus der Produktion von Antibiotika habe sich Europa ohnehin bereits vor zehn Jahren verabschiedet. „Bisher“, sagt Becker mit Blick auf sich häufende Lieferschwierigkeiten, „ist es immer wieder gut gegangen.“ In den vergangenen Jahren habe sich die Versorgungssicherheit aber verschlechtert. „Gibt es dann noch irgendwo ein Qualitätsproblem, stehen wir ganz schnell blank da.“

Die Preise

Nach Beckers Ansicht wird diese weltweite Konzentration durch die Gesundheitspolitik noch verschärft. Denn seit gut zehn Jahren vereinbaren die Kassen mit kleinen Gruppen von Herstellern jeweils exklusive Lieferverträge für die unterschiedlichen Wirkstoffe – und bekommen im Gegenzug Rabatte. Das entlastet die Beitragszahler, senkt aber auch die Zahl der Anbieter. Zudem wächst nach Beckers Einschätzung mit sinkenden Preisen auch der Druck auf die Industrie, Wirkstoffe in Billigländern zu kaufen.

Die Krankenkassen, die diese Verträge aushandeln, sehen das naturgemäß anders. Zum einen schlössen Kassen solche Verträge in der Regel mit drei Anbietern pro Wirkstoff gleichzeitig ab, so dass sie beim Ausfall eines dieser Anbieter ausweichen können – zum anderen sei nicht anzunehmen, dass die gewinnorientierten Hersteller bei höheren Preisen darauf verzichteten, ihre Wirkstoffe bei Billiganbietern einzukaufen. Eine Aussage, die wiederum die Industrie so nicht stehen lassen will. Durch die Rabattverträge müssten die Hersteller ihre Produkte teilweise zu Preisen im Cent-Bereich anbieten, erklärt der Pharmaverband BPI. „Es versteht sich von selbst, dass eine Herstellung in Europa schlicht unmöglich ist, ohne die Existenz der betreffenden Unternehmen zu gefährden.“

Die Fabriken

Wäre es demnach sinnvoll, Europa wieder zu einem bedeutenden Standort der Medikamenten-Herstellung zu machen? Der Pharma-Verband sieht darin „generell einen sinnvollen Ansatz“. Auch Apothekerpräsident Becker hält es für nötig, mit der Politik über die Rückverlagerung eines Teils der Produktion nach Europa zu sprechen – auch mit Blick auf die Handelsbarrieren, die nach den Zollerhöhungen durch US-Präsident Donald Trump weltweit aufgebaut werden. Die Krankenkasse TK dagegen steht Rückverlagerungen eher reserviert gegenüber. Sie seien zwar im Grunde sinnvoll, doch würden sich die Hersteller das „teuer bezahlen lassen“. Zudem gebe es heute nur bei einer von 250 Verschreibungen Lieferengpässe.

Die Patienten

Den Valsartan-Patienten, die nun darüber rätseln, was sie unternehmen sollen, rät das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte dringend, das Medikament nicht eigenmächtig abzusetzen, da von ihm keine akuten Gefahren ausgingen. Sie können ihren Arzt aber um ein neues Rezept bitten. Einige Kassen, etwa die TK, erstatten dafür die Zuzahlung. Teurer könnte es für die Patienten einiger Kassen werden, wenn es keine rabattierten Medikamente mit dem Wirkstoff mehr gibt. Für diesen Fall raten etwa die Ersatzkassen den Apotheken, den Arzt anzurufen und auf mögliche andere Wirkstoffe anzusprechen. So ist der chemisch eng verwandte Wirkstoff Candesartan bisher nicht von Engpässen betroffen.

Völlig unbehandelt muss der Blutdruck also auch künftig nicht bleiben. Die Verunreinigungen lassen ihn allerdings eher steigen.