Sein Sprössling immerhin hält zu ihm: Lucas (Mads Mikkelsen, rechts) und sein Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) bei der Jagd Foto: Verleih

Thomas Vinterbergs neuer Film „Die Jagd“ handelt von einem Mann, dem sexueller Missbrauch unterstellt wird. Ein Gespräch über Rufmord, verlorene Unschuld, die schlechten Witze von Lars von Trier, Eifersucht auf Mads Mikkelsen und dänische Freundlichkeit.

Stuttgart - Thomas Vinterbergs neuer Film „Die Jagd“ handelt von einem Mann, dem sexueller Missbrauch unterstellt wird. Ein Gespräch über Rufmord, verlorene Unschuld, die schlechten Witze von Lars von Trier, Eifersucht auf Mads Mikkelsen und dänische Freundlichkeit.


Herr Vinterberg, Ihr Film lotet Grauzonen der Moral aus. Wie schwierig ist es, das Gute vom Bösen zu trennen?
Beim Schreiben des Drehbuchs glaubte ich noch fest daran, dass alle Figuren des Films gute, reine und unschuldige Menschen sind. Aber beim Drehen wurde mir bewusst, dass der Film vom Verlust der Unschuld in der Welt erzählt. Ich wuchs in den siebziger Jahren unter Hippies auf, und auch die Erwachsenen liefen nackt herum, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Später erfuhren wir dann, dass auch in dieser „unschuldigen“ Epoche Kinder missbraucht wurden. So kam dann aus guten Gründen das heutige Misstrauen auf, andererseits ging auch ein Stück Unbefangenheit verloren.

Haben Sie sich an anderen Filmen über die Verfolgung eines (Un-)Schuldigen orientiert?
Ich habe mich nicht vom Film noir inspirieren lassen, ich schaue mir lieber Bergmans „Fanny und Alexander“ an. Als Regisseur versucht man, nichts nachzuahmen, sondern eine eigene Welt zu schaffen. In gewisser Weise wurde „Die Jagd“ daher inhaltlich zur Antithese von „Festen“ („Das Fest“).

„Das Fest“ und „Die Jagd“ gehen ganz unterschiedlich mit Kindermissbrauch um. Wollen Sie Gewissheiten infrage stellen?
Mir wurde schon als Kind gesagt, ich sei dickköpfig, und meine Figuren ähneln mir darin. Lucas (Mads Mikkelsen) ist zwar stur, aber auch gutherzig und äußerst zurückhaltend. Vielleicht sind die anderen daher so überrascht, wenn er beginnt, sich auch körperlich zu wehren. Diese überaus moralische, christliche Mentalität finde ich typisch skandinavisch. Lucas beharrt darauf, an das Gute im Menschen zu glauben.

Wie erklären Sie sich dieses Vertrauen?
Mit fünf Jahren war ich mit meinem friedfertigen Vater – er ist übrigens Filmkritiker – und meiner Schwester in einem öffentlichen Linienbus unterwegs, als ein dicker Erwachsener den Platz meiner Schwester forderte und uns provozierte. Irgendwann sagte ich ihm „Du bist doof“, er schlug mich zu Boden. Als ich aufwachte, versuchte die Polizei, meinen wütenden Vater vom Dicken zu trennen – während meine Schwester am Boden nach der väterlichen Brille suchte. Das war meine erste Erfahrung von Ungerechtigkeit. Ich war als Junge vielleicht ein wenig dumm, aber aufrichtig. So ähnlich sehe ich auch die Figur von Lucas in „Die Jagd“.

Warum sollte ausgerechnet Mads Mikkelsen, der sonst eher als viriler Anti-Held auftritt, bei Ihnen die Rolle des Gejagten spielen?
Alles an ihm ist anziehend, und das geht mir auf die Nerven! Nein. Mads arbeitet hart an seinen Rollen, geht auf seine Gegenspieler ein und ist unglaublich begabt. Ich wollte alle seine Talente ausnutzen. Mich reizte aber auch, ihn in einer für ihn ungewöhnlich sanften Rolle ein wenig zu beuteln und zu erniedrigen, denn er sieht einfach zu gut aus.

Sind Sie eifersüchtig?
Natürlich!

Wollten Sie nie selber Schauspieler werden?
Doch, ich habe ein paar kleinere Rollen gespielt, aber muss gestehen, dass ich nicht umwerfend war. Außerdem sehe ich meine Visage nur ungern auf der Leinwand.

Warum endet die Hatz auf den vermeintlichen Sündenbock Lucas so versöhnlich?
Ich habe da gemischte Gefühle: Einerseits mag ich alle Figuren des Films, andererseits sind ihre Verleumdungen fatal. In der heutigen Zeit verbreiten sich falsche Beschuldigungen im Global Village rasend schnell. Lucas wird sein Leben lang stigmatisiert werden. Daher wollte ich ein ambivalentes Ende: Zwar sieht alles nach einer Versöhnung aus, aber glauben kann man es nicht.

Im Herzen des Films steht die Frage, ob Kinder lügen, ob man ihnen glauben muss oder nicht.
Es ist eine verbreitete Konvention, Kindern zu glauben, wenn sie von sexuellem Missbrauch berichten. Nachdem ich aber mehrere Fälle studiert habe, bekam ich meine Zweifel daran. Da in „Die Jagd“ niemand diese kindlichen Aussagen infrage stellen will, macht sich eine ganze Gesellschaft des Rufmords an Lucas schuldig. Ich will kein bestimmtes Gesellschaftssystem anprangern. Sicherlich werden die Aussagen unserer Kinder heute kritischer unter die Lupe genommen als noch in den neunziger Jahren, aber wenn ich in jedem Punkt realistisch gewesen wäre, hätte mein Film an Dramatik verloren.

Beschreiben Sie eine erzkonservative Gesellschaft, die sich die Verteidigung der (kindlichen) Unschuld auf die Fahnen schreibt?
Ja, wir leben in einer düsteren und angsterfüllten Zeit. Inzwischen ist es beinahe undenkbar, Kindern gegenüber körperliche Zuneigung zu zeigen. Wenn ich meiner kleinen Tochter einen Kuss auf den Mund geben will, fühle ich mich von meiner Umwelt misstrauisch beobachtet.

Es geht in Ihrem Film über die Macht der Worte. Was sagen Sie zu dem Hitler-Witz, mit dem Lars von Trier 2011 in Cannes einen Skandal auslöste?
Ich würde mich freuen, wenn wir Lars nicht nur mit diesem Missverständnis in Verbindung bringen würden. Wir sollten uns seine Filme anschauen, denn darin erkennt man, dass Lars ein Humanist und kein Nazi ist.

Muss man sich die Dänen als ein glückliches Volk vorstellen?
Die dänische Sicherheit, Sauberkeit und Mittelmäßigkeit ist ein akutes Problem, das mich täglich würgt. Als Künstler hat man es in Dänemark nicht leicht und versucht, mit einer gewissen Art von Gewaltausbrüchen diese einlullende Freundlichkeit zu erschüttern. So entstehen verrückte und provokante Filme oder Regisseure wie Lars von Trier mit ihren (geschmacklosen) Nazi-Witzen. Das Leben in Dänemark ist schrecklich zivilisiert . . . und auf den Straßen fehlt die Libido!
In Stuttgart läuft der Film im Kino Delphi in der Tübinger Straße 6.