Und hier geht’s aufwärts: Das 1955 errichtete Gebäude an der Gerokstraße war einst ein Selbstbedienungsladen Foto: her

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Diesmal: Stuttgarts erster Supermarkt.

Stuttgart - Das gemütliche Café an der Gerokstraße ist an diesem Nachmittag gut gefüllt. Doch vermutlich wissen nur die wenigsten Besucher, die hier einen Cappuccino samt Käsekuchen oder Himbeer-Schoko-Torte genießen, dass es sich um ein architekturhistorisch hochspannendes Gebäude handelt, das gleich aus zwei Gründen von bundesweit geschichtlicher Bedeutung ist.

Zur Veranschaulichung hat Valérie Hammerbacher eine Art Kette mit einer Vielzahl an Perlen mitgebracht. Mit dieser kurzen Kunststoffleine will sie dem Laien darstellen, wie dieses vorne am Eingang nach oben schwingende Dach konstruiert ist. Die 42-Jährige hat an der Universität Stuttgart Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft studiert und dort auch promoviert. Seit 1985 ist sie Kuratorin am Institut für Auslandsbeziehungen mit Sitz am Stuttgarter Charlottenplatz. Und sie hat gemeinsam mit der Leiterin des Weißenhofmuseums, Anja Krämer, ein Buch mit 22 Stadtspaziergängen über die Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts in Stuttgart veröffentlicht (Der Kleine Buchverlag). Im achten Kapitel geht es beispielsweise an der Villa Reitzenstein oder der Villa Bosch entlang bis zur Waldorfschule an der Uhlandshöhe. Und ein Abstecher führt in die Gerokstraße 12 in eben jenes Café Gant, wie es heute heißt, mit seinem ungewöhnlichen Dach.

Trotz der Umbauten in jüngerer Zeit, die dem Gebäude viel von seiner Originalität genommen haben, spüre man „noch heute das Bemühen um innovative Formgebung“. Auf zwei Reihen von jeweils zwölf Stahlbetonstützen liegt eine nach innen schwingende Dachplatte, ein konkav gewölbtes Flächentragwerk. „Das Dach erinnert mit seiner elegant verlaufenden Kontur an eine Sprungschanze und basiert auf einer Hängekonstruktion über einem vorgespannten Seilträgernetz“, so Hammerbacher.

Neue Konstruktionsmethode

Im Buch „Stuttgart – Ein Architekturführer“ (Dietrich Reimer Verlag) von 1991 heißt es: „Eine neue Konstruktionsmethode erlaubte das damals revolutionäre Äußere. Die an einen Schanzentisch einer Skisprunganlage erinnernde Großform basiert auf einer Hängedachkonstruktion mit Leichtbetonschale, für die auf ein vorgespanntes Seilträgernetz Beton aufgespritzt wurde.“

Es war dies, so Hammerbacher, „zusammen mit der Leichtbetonschale 1955 die erste Hängedachkonstruktion Württembergs“. Wenn das mal nicht untertrieben ist: An der Haus-Außenwand hängt eine Tafel, die diesen Superlativ noch etwas höher ansiedelt: „Erste freitragende Leichtbetondecke der Bundesrepublik Deutschland mit Seil-Trägernetz“, steht da geschrieben.

Zu diesem Phänomen gesellt sich noch ein zweites: Hier wurde einst der erste Supermarkt Stuttgarts eröffnet. Oder zumindest war es das erste Gebäude, das speziell als Selbstbedienungsladen konzipiert wurde. Bereits 1950 war in der Wolfbuschsiedlung in Weilimdorf jene neue Einkaufsvariante eingeführt worden – aber eben in einem bereits bestehenden Gebäude. Um ihr Geschäftskonzept umzusetzen, hatte die Firma Gaissmaier aus Ulm den Architekten Eduard W. Hanow mit dem Neubau in der Gerokstraße beauftragt, berichtet Hammerbacher. Für die Statik war Fritz Leonhardt verantwortlich. „Er hat hier sein Wissen von der Statik des Brückenbaus einfließen lassen.“

Nach amerikanischem Vorbild

Der Clou dieser Konstruktion: Es sind innen keine Säulen nötig, die das Dach tragen. „Die Dachkonstruktion des Ladengeschäfts hatte nicht nur eine werbewirksame Signalfunktion“, heißt es im Architekturführer. „Sie ermöglichte auch einen stützungsfreien, nicht unterteilten Verkaufsraum – Voraussetzung für einen ,Supermarket’ nach amerikanischem Vorbild mit frei angeordneten Regalen und Selbstbedienung.“

Vorbei waren jene Zeiten, als die Kunden vor der Theke anstanden, ihre Waren bestellten und diese von den Verkäuferinnen herübergereicht wurden. „Eindrücklich schwingt dieser kleine Bau dem Kunden entgegen, um sein Warenangebot zu präsentieren“, sagt Valérie Hammerbacher. Für sie ist es der „Beginn der Kundenarbeit“: Durch den Verzicht auf die Theke „bedienen sich die Kunden an den Regalen, der Betreiber spart Personal ein“. Das bedeute „weniger an Service, da es keine Beratung mehr gibt, aber ein Mehr an Freiheit für die Kunden“.

Den Selbstbedienungsladen, der an der Grenze des Stadtbezirks Mitte liegt – auf der anderen Seit der Gerokstraße beginnt schon der Stuttgarter Osten – betrieben Gaissmaier und später die Nanz-Gruppe über mehrere Jahrzehnte und versorgten so die Bürger in der Gänsheide mit Lebensmitteln. Irgendwann wurde die Fläche aber wohl doch zu klein. 1999 zog das Kultur-Café Luxem ein, seit Sommer 2010 betreiben Georgi und Tammy Angelov, Inhaber der Feinbäckerei Gant, dort ein Kunst-Café mit Pianisten-Auftritten und Ausstellungen.

26 der in unserer Zeitung veröffentlichten Beschreibungen sind als Buch erschienen: „Stuttgarter Entdeckungen“, 160 Seiten, 100 Fotos und Karten. Silberburg-Verlag Tübingen und Karlsruhe. Hrsg.: Stuttgarter Nachrichten; 14,90 Euro.