Fans beim Spiel Italien gegen Argentinien am 19. Juni 1974 im Stuttgarter Neckarstadion. Foto: Imga/IMAGO/Pressefoto Rudel/Herbert Rudel

Stuttgart habe gelernt, großartige Feste zu feiern, jubelt 1974 ein Journalist, als zur Fußball-WM in der City lange Nächte für Riesenandrang sorgen. Die Stimmung in Stuttgart wird bei der EM 1988 und der WM 2006 noch besser. Ein Rückblick.

Als die Welt vor 50 Jahren auf Stuttgart blickte, wollte die Stadt ihren Provinzmief endgültig loswerden. Bei der Fußball-WM 1974 hieß der Vorsitzende des Organisationskomitees Gerhard Mayer-Vorfelder. Der damals 41-Jährige trug seine Haare fast bis zu den Schultern und war Persönlicher Referent von Ministerpräsident Hans Filbinger. Mit der perfekten Planung des Großereignisses gelang ihm ein Meisterstück, sodass er im Jahr danach, 1975, VfB-Präsident werden konnte und seiner politischen Karriere vom Staatssekretär bis zum Minister nichts mehr im Weg stand.

„In den Weltmeisterschaftswochen hat die Stadt zwischen Wald und Reben ihre Nagelprobe als Partner der Welt bestanden“, schrieb damals die Stuttgarter Zeitung. 600 Journalisten hatten sich für das Neckarstadion akkreditiert und berichteten so begeistert von dem, was sie hier erlebten, dass sie „Tag für Tag das Image von Stuttgart aufpolierten“, freute sich der Journalist aus der Lokalredaktion.

Das Dreifarbenhaus hat während der Fußball-WM 1974 länger geöffnet

Was die Stadt damals für ein Zeichen von Weltläufigkeit hielt, würde heute für Proteste sorgen. Verkehrsdirektor Peer-Uli Faerber hatte sich öffentlich dafür eingesetzt, dass die „Damen vom Dreifarbenhaus“ bis 2 Uhr frühmorgens die Türen im Bordell unweit des Rathauses offenhalten durften, zuvor hatte man dort „streng auf die Einhaltung der Ladenschlussgesetze“ geachtet und viel früher geschlossen. Die Stadtverwaltung hob die Sperrstunde auf, sodass offiziell bis 2 Uhr nachts gefeiert werden konnte.

Den internationalen Gästen, die von den Fußballspielen angelockt wurden, ist aber noch mehr geboten worden. Drei Mannschaften (Italien, Argentinien, zweimal Polen) spielten in Stuttgart – und diesen Nationen ist je eine lange Nacht in der Innenstadt gewidmet worden, quasi als „Verlängerung“ nach Spielschluss im Neckarstadion. Die Stadt ließ dafür Musiker aus Argentinien einfliegen, und bei der italienischen Nacht trat, was heute skurril wirkt, Heino auf dem Marktplatz auf.

Im Neckarstadion sind drei Erstrundenpartien und ein Zweitrundenspiel ausgetragen worden. Die für 22 Millionen Mark umgebaute Arena bot 72.200 Plätze (davon 34.400 Sitzplätze). Insgesamt 217.855 Zuschauer sahen die vier Spiele, im Schnitt 54.464. Das Spiel Polen – Argentinien, eine der besten Partien der WM, wollten aber nur 32.700 sehen. Dagegen kamen zweimal 70.100 Zuschauer – vorwiegend italienische Gastarbeiter – zu den Spielen ihrer Mannschaft gegen Argentinien und Polen. Das italienische Nationalteam war damals im Schlosshotel Monrepos in Ludwigsburg abgestiegen. Am Ende jubelte selbst der Kämmerer von Stuttgart: Der DFB überwies der Stadt als Miete fürs Neckarstadion 763.795 D-Mark, weshalb Stuttgart „finanziell nicht im Abseits“ stand.

Überraschend hat Irland in Stuttgart England besiegt

Blicken wir nun auf die Fußball-EM 1988 in Stuttgart: Ray Houghton, der irische Schütze des 1:0-Siegtreffers am 12. Juni 1988 im Neckarstadion gegen England, denkt gern an große EM-Tage seines Teams in Deutschland zurück. „Wir mieteten das Waldhotel Degerloch“, schrieb er im Fußball-Magazin „11 Freunde“ viele Jahre später, „die Türme, Ballsäle und Korridore verströmten den barocken Protz eines Schlosses.“ Wie Kinder hätten sie den Waldrand unweit des Fernsehturms erkundet, ehe es in die City ging.

„Die Leute staunten nicht schlecht“, ist weiter zu lesen, „22 Iren in der Fußgängerzone – Trainingshosen, breite Schultern, derber Humor, in der Hand eine kleine Tasse mit heißem Kaffee.“ Noch heute werde er auf sein Tor angesprochen. „Ehen wurden deshalb geschlossen“, weiß er, „Kinder gezeugt und Fernseher zertrümmert.“

Noch mehr war in jenem Frühsommer des Jahres 1988 in Stuttgart zu Bruch gegangen. Englische Fans hielten die Polizei in Atem. Jagdszenen in der City: Es flogen Stühle am Königsbau, die Polizei griff mit Hunden ein. Durch den massiven Einsatz der Ordnungsmacht waren die Krawalle der britischen Hooligans doch nicht so schlimm, wie befürchtet. Am Ende kam es zu „nur“ 107 Festnahmen.

Public Viewing auf dem Schlossplatz gab es noch nicht – man kannte das Wort Public Viewing überhaupt nicht. Vor einem Kaufhaus mit Fernseher auf der Königstraße versammelten sich immer mehr Fans. Ein Streifenwagen der Polizei fuhr heran – nicht, um die Ansammlung aufzulösen. Die Beamten stiegen aus und schauten selbst zu. „Es wurde gedrückt und geschoben – fast hat man die Schaufensterscheibe abgeschleckt“, schreibt Irmgard Abt im Internetforum unseres Stuttgart-Albums.

Dieter Schroeder hat das EM-Spiel von England gegen Irland 1988 im Neckarstadion als Studentenjobber erlebt: „Ich war als Ordner in einem Block mit irischen Fans. Alles lief sehr friedlich ab.“ Beim 1:0 für Irland sei ein irischer Fan vor Begeisterung auf die Absperrung geklettert. Es kam zu einem Zwischenfall, den Schroeder nie vergessen wird: „Er ist abgerutscht und hat sich dabei einen Finger abgerissen.“

Was OB Rommel beim Spaziergang auf der Königstraße auffiel

Angstfrei marschierte OB Manfred Rommel nach Spielende vom Rathaus in Richtung Bahnhof. Er sah sich keiner Gefahr ausgesetzt, wie er die Journalisten wissen ließ: „Mr hot mir g’sagt, die tätet wie Zorro durch d’Stadt rasa – ond jetzt isch es so ruhig.“ Die „Frust-Randale“ der unterlegenen Engländen blieb nach dem Spiel weitgehend aus, was die Polizei auf die starke Präsenz der Ordnungsmacht zurückführte. Dazu, so notierte unsere Zeitung damals, hätten sich Einbrecher und Autoknacker beim Anblick von so vielen Uniformierten in der Nacht zurückgehalten.

Wenn vom Sommermärchen 2006 in Stuttgart die Rede ist, leuchten noch immer viele Augen. Die Stadt feierte während der Fußball-WM das größte, buntesten, schönste Fest seiner Geschichte und erwachte aus dem touristischen Dornröschenschlaf. Das Wetter war so schön wie im Urlaub am Mittelmeer, das deutsche Team weckte eine bisher nicht gekannte Euphorie im Land, die Stadt feierte in völlig neuen Dimensionen, die City bebte rund um das Public Viewing auf dem Schlossplatz.

Dass in Stuttgart um den dritten Platz gespielt wurde, lag nicht unbedingt an den Reizen der Stadt, sondern eher am Heimvorteil, für den die Herkunft des damaligen DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder sorgte. „Stuttgart ist viel schöner als Berlin“, wurde zum Hit des Sommers.

Etwa 20 000 Fans standen vor dem Spielerhotel

Am 8. Juli 2006 strömten vor dem kleinen Finale von Deutschland gegen Portugal (Deutschland gewann mit 3:1) geschätzt 20 000 Fans zum Steigenberger Hotel Graf Zeppelin, wo Jürgen Klinsmann mit seiner Mannschaft abgestiegen war. Die Stadt befand sich im Rausch der Glückseligkeit und feierte Deutschland als gefühlten Weltmeister. Irgendwann schauten Trainer und Spieler aus dem Fenster und freuten sich mit. Auf einem Transparent stand: „Was wollt ihr mit den ersten Platz? Den größten Preis habt ihr längst gewonnen, den Stolz einer ganzen Nation.“ Es wird schwer, dieses Sommermärchen bei der EM 2024 zu wiederholen. Aber vielleicht wird es auch ganz anders, aber ebenfalls sehr schön erzählt.