Heiner Geißler (Mi) mit der Projektgegnerin Brigitte Dahlbender (Landesvorsitzende BUND) und dem Befürworter Volker Kefer (r, Vorstand der Bahn) bei der Pressekonferenz nach dem ersten Schlichtungsgespräch im Stuttgarter Rathaus. Foto: dpa

Für den Soziologen Helmut Digel ist die Schlichtung als Demokratieexperiment gescheitert.

Stuttgart - Für Helmut Digel ist das Demokratieexperiment gescheitert: Das Vermittlungsverfahren zu Stuttgart 21 komme "einer großen Talkshow gleich", kritisiert der Tübinger Gesellschaftswissenschaftler. Als Gastautor dieser Zeitung hält er Schlichter Heiner Geißler vor, offen mit den Gegnern zu sympathisieren.

Stuttgart 21 ist zunächst ein Lehrstück dafür, wie unsere Gesellschaft zukünftig ihre Entwicklung möglichst nicht gestalten sollte. Dabei ist das Projekt, in dessen Zentrum ein Hauptbahnhof steht, der zu modernisieren ist, und wo es um die Verbindung von Städten und Metropolen innerhalb Europas geht, äußerst sinnvoll. Will eine Metropolregion Europas in der weiteren Zukunft konkurrenzfähig sein, so bedarf sie einer fortlaufenden Modernisierung. Die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger Europas ist dabei die zentrale Herausforderung. Eine neue Trasse zwischen Ulm und Stuttgart ist ebenso unerlässlich wie ein neuer Stuttgarter Hauptbahnhof.

Die Frage, ob eine Trasse oder zwei Trassen den Ansprüchen in der Zukunft genügen werden, ob ein Kopfbahnhof oder ein Durchgangsbahnhof die geeignete Lösung sein wird, ist vor allem eine Frage der Experten. Jener Experten, die sich als Wissenschaftler, Ingenieur, Architekt und Fachmann oft über Jahrzehnte mit keiner anderen Frage auseinander gesetzt haben als mit jener des Eisenbahnverkehrs.

Gralshüter der Fernsehdemokratie

Den Gegnern von S21 ist es gelungen, diese grundsätzliche Bedeutung der fachlichen Expertise in Frage zu stellen. S21 ist zur Frage von Anschauungen und Meinungen geworden, von Glaubensaussagen und Misstrauensbekundungen. Vor allem wurden Emotionen wach gerufen. Den einen geht es um den Naturschutz, den anderen geht es um die Tradition, dritte sind grundsätzlich gegen jede Beschleunigung, verlangen Langsamkeit anstelle der Modernisierung. Einige stören die Bauarbeiten, der dabei entstehende Baulärm und die jahrelang anhaltenden Verkehrsbehinderungen. Viele Gründe lassen sich gegen S21 vorbringen.

Die Befürworter sind im Zugzwang. Organisatorisch und kommunikativ sind sie eher in der Defensive, in der Sache sind viele von ihnen nicht weniger unkundig wie die Gegner. Der Gegner hat sich auch schon bei früheren Großprojekten mit entsprechenden Detailfragen auseinander gesetzt, wenn es um den Bau eines Flughafens ging, als der neue Berliner Hauptbahnhof gebaut wurde oder als über die Stuttgarter Messe zu entscheiden war.

Bei Stuttgart 21 soll nun die verfahrene Situation durch eine Schlichtung mittels eines Schlichters geklärt werden, der selbst von der Sache nur wenig versteht. Seinem Wunsch wurde statt gegeben, die Schlichtung öffentlich zu veranstalten. Am vergangenen Freitag wurde sie live in mehreren Kanälen sowohl im Fernsehen als auch im Internet übertragen. Der Schlichter ist dabei der Gralshüter der deutschen Fernsehdemokratie. Er fällt bei Sachbeiträgen ins Wort, er belehrt, er stellt Wissenschaftler in ihren sprachlichen Fähigkeiten in Frage, er verlangt die fernsehgemäße Aussprache. Der Fernsehzuschauer ist der Adressat der Vermittlung. Dabei geht es nicht um die Sache, nicht um die Erläuterung unterschiedlicher gutachterlicher Stellungsnahmen, sondern der Bürger zu Hause vor dem Bildschirm soll verstehen, um was es bei dem Konflikt zwischen Stuttgart 21 und K21 geht.

Das mag gut gemeint sein, der Sache ist dies jedoch nicht dienlich. Rhetorik, nicht Sachkenntnis ist in dieser Art von Schlichtungsgespräch gefragt. Politiker dominieren die Diskussion, politische Rhetorik wird belohnt, fachliche Differenziertheit wird zum Ärgernis. Der Schlichter, der die Sprache der Politik spricht, bagatellisiert wissenschaftliche Kompetenz, orientiert sich an populistischen Bewertungen und sympathisiert in offener Weise mit den Gegnern von Stuttgart 21 und hält sich mit eigenen Meinungen nicht zurück. Das Ganze kommt einer großen Talkshow gleich.

Experten sind die Verlierer

Die Experten, die eigentlich zur Klärung der Sachfragen beitragen sollten, werden unterbrochen. Ihre Expertise wirkt wirr, weil sie kommunikativ unerfahren in Bezug auf die entstandene öffentliche Situation sind. Rhetorik wird dabei zum alleinigen Gütesiegel der Debatte. So wie in den vergangenen Monaten die öffentliche Kommunikation insbesondere im Fernsehen von einseitigen Stellungsnahmen geprägt war, wo Recherche und fundierte Sachermittlung immer nur die Ausnahme gewesen ist, so ist nun auch bei der Schlichtung eine Kommunikationsszene entstanden, die alles andere als vielversprechend ist. Am Ende einer derartigen Schlichtung, das wird bereits nach dem ersten Tag deutlich, kann letztlich nur eine Volksabstimmung stehen, denn die Regie des Schlichters ist auf die Zuschauer und Zuhörer der Schlichtung, das heißt auf die anonyme Masse der Rezipienten des Fernsehens und des Internets gerichtet.

Eine derartige Ausrichtung, das zeigt das gewählte Verfahren, wird der Sache nicht gerecht werden. Demokratie ohne Sachkenntnis ist ein äußerst gefährliches Unterfangen. Die parlamentarische Demokratie mit ihren fachlichen Vorbereitungen auf der Arbeitsebene, ihren Mehrheitsentscheidungen auf Gemeinde-, Landes-, und Bundesebene, das wird bereits am ersten Tag dieser Schlichtung deutlich, ist einem Medienspektakel, wie es in Stuttgart veranstaltet wird, in vieler Hinsicht überlegen. Die Stuttgarter Schlichtung muss deshalb mit Sorge betrachtet werden.

Experten sind die Verlierer

Der Bürger soll dabei im Mittelpunkt stehen, obgleich es einen massenhaften Bürgerdialog über die wissenschaftlich fundierten Expertisen, die in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 aufeinanderstoßen, nicht geben kann. Dem Bürger bleibt deshalb nichts anderes übrig, als seine Sympathien auf der Grundlage der rhetorischen Leistungen der Beteiligten zu verteilen. Die Stars sind dabei die Politiker, allen voran der Grüne Oberbürgermeister aus Tübingen mit seinen rhetorischen und demagogischen Künsten, der mit den Etiketten "Schienenpolitiker" und "Mathematiker" sich selbst als wissenschaftlichen Experten stilisiert, dabei jedoch lediglich grüne Eroberungspolitik demonstriert. Die Verlierer sind dabei die Experten, die nicht selten durch den Schlichter der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Ihre Aufregung ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Nicht selten werden stotternd auf der Grundlage von Fachtermini, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen versucht, die nicht zu vereinfachen sind.

Wer bei der Frage nach dem Pro und Contra von Stuttgart 21 und bei der Suche nach einer Lösung einen ehrlichen Schritt weiterkommen möchte, der muss sich dieser Art von Schlichtung entziehen. Gefordert ist eine unabhängige Mediation durch einen international anerkannten verkehrswissenschaftlichen Experten. Gefordert sind die Experten selbst und die Deutsche Bahn, die politischen Parteien und die Parlamente haben sich diese Expertise für die anstehende politische Entscheidung zu Eigen zu machen. Eine Debatte, geprägt von Emotionen und geifernden Einwänden aller Beteiligten, geprägt von vorschnellen Bewertungen und unsachlicher Steuerung durch den Schlichter kann dies gewiss nicht leisten.