Im Dortmunder Hafen sichert die Kriminalpolizei in einem Tatort-Schutzzelt Spuren. Bei einer Auseinandersetzung im Dortmunder Hafen ist am Donnerstag ein Mensch nach einer Gewaltanwendung gestorben. Foto: Wickern/news4 Video-Line TV/dpa

Wieder ist das Gewaltopfer ein Obdachloser. Wieder ist ein Kind der mutmaßliche Täter. Der Kriminalfall im Dortmunder Hafen schockiert. Es gibt ein Handyvideo. Was ist dran an der These, dass Deutschlands Jugend immer brutaler und gewalttätiger wird? Ein Faktencheck.

Wieder eine tödliche Gewalttat gegen einen obdachlosen Menschen. Wieder gehen die Ermittler von einem Minderjährigen als mutmaßlichen Täter aus. Wieder war die Tatwaffe ein Messer.

Handyvideo zeigt die Bluttat

Ein 13-jähriger Junge soll einen 31 Jahre alten Obdachlosen am Donnerstagabend (4. April) am Dortmunder Hafen getötet haben. Das teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag (5. April) mit. Ein Handyvideo zeige, wie das Kind mit einem Messer auf den Mann eingestochen habe, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

„Nach den durchgeführten Ermittlungen und insbesondere der Auswertung eines Videos steht fest, dass ihm die tödlichen Stiche von einem der strafunmündigen Kinder beigebracht wurden“, heißt es von Ermittlerseite. Die Obduktion ergab demnach, dass das 31-jährige Opfer durch mehrere Messerstiche getötet wurde.

Polizei nimmt vier Tatverdächtige vorläufig fest

Der Dortmunder Hafen aus der Luft. Foto: dpa/Bernd Thissen

Nach der Tat hatte die Polizei am Donnerstagabend vier Tatverdächtige vorläufig festgenommen. Es handelte sich um den 13-Jährigen, ein weiteres gleichaltriges Kind und um zwei Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren. Das Opfer war einige Stunden nach der Tat als ein 31 Jahre alter Mann identifiziert worden, der zuletzt keinen bekannten Wohnsitz hatte. Zeugen hatten eine Auseinandersetzung beobachtet und die Polizei gerufen.

Die vier Minderjährigen waren vom Tatort geflohen, Minuten später aber vorläufig festgenommen worden. Nach bisherigem Ermittlungsstand sei nun davon auszugehen, dass sie „zufällig am Hafen auf das Opfer trafen“. Im Vorfeld der Gewalttat habe es eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Opfer und dem 13-jährigen Kind gegeben. Der Junge habe dann zugestochen, wie das Video zeige, schilderte Staatsanwalt Henner Kruse de Tathergang.

Täter kann strafrechtlich nicht belangt werden

Das Opfer sei im Zuge der Auseinandersetzung ins Hafenbecken gefallen, habe noch an einer Leiter aus dem Kanal klettern und um Hilfe rufen können. Der 31-Jährige sei trotz Reanimationsmaßnahmen eines Notarztes noch am Tatort gestorben.

Der Junge kann wegen seines Kindesalters strafrechtlich nicht belangt werden. Die beiden 13-Jährige waren bereits nach ihrer Anhörung aus dem Polizeigewahrsam entlassen und ihren Eltern übergeben worden. „Das Jugendamt ist informiert“, erklärte Kruse.

Einsatzkräfte suchen im Hafen und Hafenbecken nach Spuren. Foto: dpa/Justin Brosch

Wieder war ein Messer die Tatwaffe

Ein Polizeihund spürte die mutmaßliche Tatwaffe in der Nähe des Tatorts auf. Eine Mordkommission nahm die Ermittlungen auf. Die Jugendlichen hatten sich den Angaben zufolge anwaltlich vertreten lassen. Sie wurden am Freitag vernommen. Im Anschluss wurden auch sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen.

„Eine Beteiligung an der Straftat des Kindes ist aktuell nicht anzunehmen.“ Das Video, das die Tat zeige, stamme vom Handy des 14-Jährigen, sagte Staatsanwalt Kruse.

Ein Messer liegt an einem Tatort auf dem Boden. Die Polizei warnt immer wieder vor der Gefahr durch Stichwaffen. Foto: dpa/Daniel Bockwoldt

Schlimme Erinnerungen werden wach

  • Wuppertal, 22. Februar 2024: An einem Wuppertaler Gymnasium wird am Amokalarm ausgelöst, nachdem ein 17-Jähriger mit mehreren Waffen auf Mitschüler eingestochen hat. Die Polizei gibt die Zahl der verletzten Opfer zunächst mit vier an, hinzukommt der Angreifer. Er und zwei Schüler müssen auf der Intensivstation behandelt werden.
  • Oberhausen, 10. Februar 2024: Am Oberhausener Hauptbahnhof werden ein 17- sowie ein 18-jähriger Ukrainer niedergestochen. In diesem Fall gelten vier 14- bis 15-jährige Jugendliche als dringend tatverdächtig und sitzen in Untersuchungshaft.
  • Offenburg, 9. November 2023: Ein 15-Jähriger erschoss im Klassenzimmer der Offenburger Waldbachschule einen Mitschüler. Ermittlungen ergeben, dass der Jugendliche wohl einen Amoklauf geplant hat.
  • Pragsdorf,14. September 2023: Ein Jugendlicher muss sich vor dem Landgericht Neubrandenburg wegen Totschlags verantworten. Ihm droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Die Staatsanwaltschaft wirft dem damals 14-Jährigen vor, im Ort Pragsdorf bei Neubrandenburg den sechsjährigen Joel geschlagen und erstochen zu haben. Joel starb, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf genommen habe, so die Staatsanwaltschaft.
  • 25. Oktober 2023: In Horn-Bad Meinberg in Nordrhein-Westfalen wird ein Obdachloser mutmaßlich von drei Jugendlichen durch Messerstiche getötet. Der brutale Vorfall im Kreis Lippe Ende Oktober hatte für Entsetzten gesorgt. Die mutmaßliche Tatwaffe war auch damals ein Messer. Drei Jugendliche sollen den Mann unweit von Bielefeld getötet und die Tat gefilmt haben. Ein 14-Jähriger und zwei 15-Jährige waren in Untersuchungshaft genommen worden.
  • 11. März 2023: Fassungslos hat bis heute auch der Fall der Schülerin Luise zurückgelassen. Sie war im März 2023 in Freudenberg im Siegerland mit Messerstichen ermordet worden. Zwei Mädchen im Alter von damals 12 und 13 Jahren gestanden die Bluttat. Auch in diesem Fall konnten die beiden Kinder strafrechtlich nicht belangt werden. Die Ermittlungen waren im Herbst 2023 eingestellt worden.

Wird Deutschlands Jugend immer gewalttätiger?

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte erst vor wenigen Tagen die Kriminalstatistik für 2023 vorgestellt. Demnach nahm Kinder- und Jugendkriminalität in dem Bundesland um 10,8 Prozent auf 95 300 Fälle zu. „Das muss uns Sorgen machen“, hatte Reul betont.

Auch wenn solche tödlichen oder fast tödlichen Fälle immer für Schlagzeilen und Entsetzen sorgen: Mord und Totschlag sind seltene Delikte in der Jugendkriminalität. „Insgesamt wurden 2022 in ganz Deutschland bei Mord und Totschlag 513 vollendete und 1723 versuchte Fälle von der Polizei registriert“, berichtet Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster. Von den ermittelten Tatverdächtigen sei ein Viertel im Alter zwischen 8 bis 20 Jahren.

„Crime-Drop“-Phänomen

Generell ist laut Klaus Boers spätestens seit Mitte der 2000er Jahre die Jugendgewalt stark zurückgegangen. „Das Phänomen wird ‚Crime Drop‘ genannt und ist auch international zu beobachten.“ In Deutschland sei die polizeilich registrierte Jugendgewalt im Jahr 2022 zum ersten Mal seit langem gestiegen.

„Ob das eine Eintagsfliege oder eine Trendwende ist, können wir erst in zwei, drei Jahren sagen“, erklärt Boers. Verglichen mit den 1990er Jahren bewege sich die Jugendkriminalität aber noch immer auf einem niedrigen Niveau.

Ob ein junger Mensch gewalttätig werde, hänge ganz wesentlich von seiner Sozialisierung ab. Einfluss auf das Verhältnis zu Gewalt habe neben Freundeskreisen und Lehrern vor allem das Elternhaus. „Wenn Kinder geschlagen werden, verstehen sie Gewalt unter Umständen als Mittel der Kommunikation“, sagt Boers. Bei den Eltern und in der Schule lerne ein junger Mensch soziale Normen. „Also, was erlaubt ist und was nicht.“

Pubertät als kritisches Alter

Grundsätzlich sei man in der Pubertät am gefährdetsten, um in die Kriminalität abzurutschen, führt der Experte. weiter aus Zwischen 12 und 16 Jahren seien junge Menschen in einer sensiblen Lebensphase. Ab Mitte des Jugendalters werde es in der Regel wieder weniger kritisch.

Solche brutalen Fälle könnten nicht verhinder werden, betont der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand. Er lobt aber Schritte wie die Notfallpläne, die nach dem Amoklauf in Winnenden 2009 von Schulen aufgestellt wurden. „Wichtig ist es, so gut wie möglich präventiv zu arbeiten.“ Sozialarbeiter und Schulpsychologen seien wichtige Pfeiler, um auf die Kinder und Jugendlichen zuzugehen und Problemfälle früh zu erkennen.

Info: Strafrahmen für Messerangriffe

Körperverletzung mit Messer
Der Strafrahmen für Körperverletzungen mit einem Messer ist nach Einschätzung des Bundesjustizministeriums ausreichend. Demnach können gefährliche Körperverletzungen, die mit einem Messer begangen werden, nach Strafgesetzbuch (StGB) mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe sanktioniert werden. Als Mindeststrafe sieht Paragraf 224 StGB Freiheitsentzug von sechs Monaten vor. In minder schweren Fällen liegt der Strafrahmen zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Laut Ministerium gibt das den Gerichten die Möglichkeit, solche Gewalttaten konsequent und angemessen zu ahnden.

Strafrahmen
Dem Justizministerium zufolge ist es „rechtssystematisch problematisch“ für eine Körperverletzung mit einem Messer einen schärferen Strafrahmen vorzusehen als für die Begehung mit einer anderen Waffe oder einem anderen gefährlichen Werkzeug, „beispielsweise einer zerbrochenen Flasche“.

„Gefährliches Werkzeug“
Konkret ist in Paragraf 224 auch nicht von Messern als Tatwerkzeug die Rede, stattdessen ist dort unter anderem der Einsatz einer „Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ aufgeführt. Wenn der Täter den möglichen Tod des Opfers billigend in Kauf nimmt, kommt zudem eine Strafbarkeit wegen eines versuchten Tötungsdelikts in Betracht.