Das Katharinenstift, umzingelt von S21-Baustellen Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Wohin mit der Stuttgarter Oper in der Umbauzeit? Die verfahrene Entscheidungsfindung wird dazu führen, dass den teuersten und schlechtesten Lösungen der Vorzug gegeben wird, befürchtet der Stuttgarter Architekt Arno Lederer. Ein Gastbeitrag.

Stuttgart - Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen.“ Sokrates’ Spruch passt wie die Faust aufs Auge zur Diskussion um die anstehende Opernsanierung. Aus der Debatte um ein Ausweichquartier kann man nur die Lehre ziehen: Kein Standort für ein Ausweichquartier befriedigt die Ansprüche von Politik, Kultur und Bürgerschaft. Eine verflixte Situation – käme ein neuer Vorschlag auf den Tisch, die Gegner wären schon zur Stelle. Ganz abgesehen von Heckenschützen, die im Gefecht der Argumente aus der zweiten Reihe das gesamte Vorhaben zur Strecke bringen wollen. „Wohnungen statt Oper“ lautet deren populistische Munition.

Immerhin führt das Argument zum Nachdenken, weil man tatsächlich in dieser Stadt von Wohnungsnot sprechen kann. Und von Opernnot? Nein, das geht nun wirklich nicht. Doch wer Wohnungen bauen will, muss sich gewiss sein, dass zur Wohnung nicht nur die Fläche zwischen den eigenen oder gemieteten vier Wänden gehört. Schließlich will jede Wohnung auch mit Dingen versorgt sein, die außerhalb dieser vier Wände für das Leben notwendig sind: Versorgung mit Handel, Arbeitsplätzen, Bildung, Kultur, Religion usw. Selbst in den erbärmlichsten Verhältnissen, in denen Menschen gezwungen sind zu hausen, finden wir neben Bett, Stuhl und Tisch auch Spiel, Gesang, Literatur, Malerei. Beide Bereiche bedingen einander.

Die Oper in Zürich verlor zwanzig Prozent ihrer Abos

Wer also Wohnung sagt, meint auch Kultur, denn die Oper ist für alle da – was manche noch gar nicht bemerkt haben. Deshalb gilt auch hier, wie bei Wohngebäuden, dass Häuser wie unser Körper Pflege und Heilung brauchen. Übertragen auf Haus und Stadt heißt das: Unterhalt und Sanierung.

Wohin also mit der Oper, die mit den anderen Sparten des Staatstheaters insgesamt über 1200 Arbeitsplätze verfügt, die nicht nur am Abend, auch tagsüber wechselnde Veranstaltungen anbietet und die selbst für einen großen Teil ihrer Ausgaben aufkommen muss? Wer gezwungen ist, hart zu kalkulieren, wird darauf achten, die Kosten gering zu halten, oder noch besser, nachhaltig zu wirtschaften. Was heißt das im Falle der Oper, die von Stadt, Land und Besuchern finanziert wird?

Dass die Einrichtung während der Sanierung in einem Interimsbau unterkommen soll, scheint bereits gesetzt. Man spricht von Kosten bis zu fünfzig Millionen Euro. Peanuts gegen die 360 Millionen, die für die gesamte Maßnahme angesetzt sind. Aber viel mehr, als für einen ordentlichen Schulbau mit Turnhalle notwendig wäre. Interim heißt aber so viel wie übergangsweise. Übergangsweise hat auch die Tonhalle in Zürich einen Unterschlupf bekommen. Zwanzig Prozent der Besucher haben ihr Abonnement gekündigt, wegen der weiteren Entfernung zur Maag-Halle in Zürich-West, die jedoch in einem angesagten Viertel mit mehreren kulturellen Einrichtungen liegt. 10 Millionen Franken hat der Umbau gekostet, ohne die für ein Operntheater notwendige Bühnentechnik.

Je weiter ein Interim räumlich entfernt liegt, desto höher die Kosten, da die Kosten für den Transport von Bühnenbildern und Instrumenten, Aufbau und Abbau, also die gesamte Logistik, ebenfalls zu Buche schlagen. Die Frage nach der Nachhaltigkeit, in einer Stadt, die ohnehin unter zu viel Verkehr leidet, stellt man in diesem Zusammenhang am besten lieber nicht.

Tabu reiht sich an Tabu

Also doch ein Standort in unmittelbarer Nähe der Oper? Wer im engeren Umkreis das Modell eines Interims hin und herschiebt, um ein freies Feld zu finden, gleicht einem Schachspieler, der bereits matt gesetzt ist. Akademiegarten? Tabu: die Frischluftversorgung der Stadt wäre gestört. Vorübergehende Überbauung des Eckensees? Tabu: klimaschädliche Auswirkungen für die Stadt und Beschneidung einer innerstädtischen Parkanlage, prophezeien besorgte Mitbürger. Zwischen Schlossgartenhotel und Katharinenstift am Rande der Schillerstraße? Tabu: Der Zusammenhang zwischen den Anlagen wäre gestört. Bliebe das Katharinenstift selbst: Tabu hoch zehn!

Auch noch so viele Exceltabellen, nach Vor- und Nachteilen numerisch geordnet, helfen nicht. Als vor einiger Zeit ein Planungsunternehmen für ein größeres Bauprojekt eine mehrseitige, in vielen Spalten aufgeteilte Tabelle mit Einzelnoten der Bauherrschaft vorlegte, meinte der Vorsitzende des Aufsichtsrats, ihn interessiere das Werk, das nahezu Buchform hatte, nicht, er wolle lediglich einen vernünftigen Vorschlag. Die Experten waren verdutzt, hatten sie doch monatelang Werte und Listen erarbeitet, und nun sollten sie einfach sagen, was nach dem gesunden Menschenverstand die vernünftige Lösung sei?

Vernünftig wäre eine langfristige Nutzung

Was also wäre im Falle der Stuttgarter Opernsanierung vernünftig? Vernünftig wäre zunächst einmal, kein Interim zu bauen, sondern ein Gebäude, das nicht nur der Kosten wegen, sondern auch aus Gründen der Nachhaltigkeit langfristig genutzt werden kann. Vernünftig wäre auch, dieses Haus mit den bestehenden Einrichtungen so zu verbinden, dass deren Infrastruktur auf kürzestem Weg witterungsgeschützt weiter genutzt werden kann. Das aber geht nicht, weil am geeigneten Platz ein denkmalgeschütztes Schulhaus steht. Der Schule hat man vor den Arbeiten an Stuttgart 21 zugesichert, dass sie an diesem Standort bleiben könne. Dorthin ist sie übrigens – nach 85 Jahren an der Ecke Friedrichstraße/Schloßstraße – erst 1903 gewandert. Umzingelt von der Bahnhofsbaustelle hält die Schule tapfer die Stellung. Die Nähe zum Bahnhof, zu den kulturellen Einrichtungen und die Lage am Park sei ein Gut, das man nicht aufgeben könne.

Was aber wäre, wenn die Schule ein neues Zuhause in unmittelbarer Umgebung bekäme, zwar nicht direkt am Park, aber in ebenso günstiger Entfernung zu den Museen, den Theatern, der Ballett- und Musikhochschule? Zum Beispiel dort, wo sich die Neckar-Realschule befand? Immerhin könnte man dort erheblich Fläche gewinnen. Mehr noch, man könnte einen Deckel über die Straße legen, um so mit einer großen Terrasse Staatsgalerie und Schulgelände großzügig zu verbinden.

Warum eigentlich kein Neubau?

So wäre der Weg frei, unter Erhaltung und Einbeziehung des denkmalgeschützten Katharinenstifts den Staatstheatern ein drittes Haus an die Seite zu stellen, ganz im Sinne von Littmann, der damals Schauspiel und Oper in einem Komplex verband. Das kam damals einem Geniestreich gleich, stadträumlich wie funktionell und wirtschaftlich gedacht. Ein Erfolg, vergleichbar mit dem der Elbphilharmonie von heute. Diese kostete übrigens so viel mehr, weil in den Speicher, auf dem sie steht, eingegriffen wurde. Umbauten bergen eben Risiken, wie die Beispiele der Theater in Berlin, Köln, Frankfurt, Karlsruhe und München zeigen. Was letztlich zur Frage führt, warum nicht ein Neubau an dieser Stelle die Oper aufnehmen könnte und der Littmann-Bau dann die dritte Spielstätte für Konzerte wird, im Äußeren unverändert, da die Bühnentechnik nicht in dem Umfang erneuert werden müsste, wie das geplant ist. Dann bliebe der schöne Baukörper symmetrisch, die Kosten für die gesamte Maßnahme wären kalkulierbar, und Stuttgart stünde der Konkurrenz nicht nach.

Alles vernünftig? Man darf die Frage nicht einmal im Ansatz stellen. Sie sei, wie mir eine verantwortliche Person sagte, unanständig. Hinter vorgehaltener Hand sagen einem die in ökonomischen, städtebaulichen und baulichen Themen beschlagenen Profis: Doch, so könnte der gordische Knoten gelöst werden. Aber das Tabu kann man nicht brechen. Lieber eine Schule, die sich an der alten Stelle räumlich nicht entwickeln kann, deren Gebäude sich für eine moderne Pädagogik nicht eignet und wo sich keine Erweiterung realisieren lässt. Lieber eine Turnhalle als städtebaulicher Auftakt, als Blickfang vor Schauspielhaus und Oper, lieber das Risiko der umfangreichen Sanierung, wie in Berlin, Köln, Karlsruhe usw. Vernunft schachmatt.