Rugby ist eine harte Sportart – Verletzungen gehören zum Spiel wie das Ei Foto: AP

Rugby-Profis müssen hart im Nehmen sein, besonders in Neuseeland wird die Macho-Kultur aus Härte und Durchhaltevermögen hoch geschätzt. Aber Ex-Profis warnen vor hohen Risiken.

London - Als Grant Fox die All Blacks bei der ersten Rugby-WM 1987 zum Titel kickte, war er ein Hänfling. Der Spielmacher der Nationalmannschaft Neuseelands wog 71,5 kg bei 1,75 Meter Größe. 28 Jahre später ist der 1,71 Meter kleine Aaron Smith mit 85 kg der leichteste Spieler der All Blacks, die an diesem Samstag (17 Uhr MEZ) im WM-Finale in London-Twickenham auf Australien treffen. Das Schwergewicht 1987 war Stürmer Richard Loe mit 108 kg, heute locker übertrumpft von dem 127-kg-Brummer Charlie Faumuina. Im Durchschnitt wiegen die All Blacks des aktuellen Jahrgangs 105 kg, also 15 kg mehr als die Truppe von 1987.

Die Akteure sind massiver, stärker und schneller – und krachen beim Tackling mit größerer Wucht aufeinander als einst. Entsprechend sehen sie hinterher aus. Verrenkte oder ausgekugelte Schultern, gebrochene Knochen, Cuts rund ums Auge und auf der Stirn, Platzwunden und Prellungen – alles normale Verletzungen nach regelgerechten Aktionen. Es ist Alltag, dass ein Profi nach einem Spiel aussieht wie ein unterlegener Boxer. In den beiden Halbfinal-Begegnungen floss das Blut in Strömen.

Die verquollenen Blumenkohlohren sind die harmloseste Folge der Nahkämpfe, die angeordnetes Gedränge heißen. Dabei stehen sich je acht Offensivkräfte in drei Reihen gegenüber. Der Männerauflauf schiebt, was das Zeug hält, und wartet darauf, dass der Ball in die Gasse geworfen wird. Unlängst war es noch erlaubt, dass sich die Haufen mit Schwung aufeinander stürzten, jetzt müssen sich die Vorderreihen binden. Das heißt, der Schub erfolgt aus dem Stand und vermindert das Verletzungsrisiko. Beim Tackling kann sich ein 100-kg-Schrank einem Ballträger in den Weg stellen und ihn wie einen Baum fällen. Um die Gefahr von Kopf- und Nackenverletzungen zu reduzieren, sind Spear Tackles verboten, bei denen ein Gegner über Schulterhöhe in die Luft geworfen wird und krachend auf dem Boden landet.

Gehirnerschütterungen stellen größtes Risiko dar

Trotz der Regeländerungen belegt eine australische Studie, dass im Profi-Rugby drei Mal so viele Verletzungen vorkommen wie im Profi-Fußball. Der größte Makel sind die Gehirnerschütterungen, die als „heimliche Epidemie“ bezeichnet werden und ähnliche Auswirkungen haben wie in nordamerikanischen Football-Profiliga NFL. Dort erklärten sich die Versicherungen vor zwei Jahren bereit, etwa 4500 Ex-Spielern, die irreparable Gehirnschäden erlitten haben, 616 Millionen Euro zu bezahlen – weil die NFL die Gesundheitsrisiken verharmlost hatte. Untersuchungen der Gehirne verstorbener Spieler, lieferten den Beweis, dass die meisten Ex-Profis an Chronisch Traumatischer Enzephalopathie (CTE) litten, einer aus dem Boxen bekannten Hirnschädigung, bei der die Nervenstränge vernarben. Die schlimmen Spätfolgen sind Verwirrtheit, Demenz, Alzheimer, Parkinson, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen. Eine Studie der höchsten englischen Rugby-Liga in der Saison 2013/14 zeigte, dass im Rugby doppelt so viele Gehirnerschütterungen vorkommen wie im American Football: 10,5 Vorfälle pro 1000 Spielstunden.

Der Argentinier Juan Imhoff torkelte im Halbfinale benommen vom Platz und kam nach dem vom Weltverband IRB vorgeschriebenen Fünf-Minuten-Test, den Mediziner für zu kurz halten, nicht wieder zurück. Eine nicht vollständig auskurierte Gehirnerschütterung kann tödliche Folgen haben, wenn ein Akteur ein zweites Hirntrauma erleidet. Die Effekte mehrerer Gehirnerschütterungen können sich kumulieren.

In Neuseeland mit seiner Macho-Kultur wird die maskuline Härte und Rücksichtslosigkeit im Rugby noch immer verherrlicht. Die Fernsehkommentatoren, selbst ehemalige Profis, stoßen bei brutalen Kollisionen Laute der Bewunderung aus, oft sogar von einem Lachen begleitet. Und die „Sunday Star Times“ veröffentlichte am vergangenen Sonntag eine Liste der „Top 10 World Cup Enforcers“, die sich „rauen Respekt verdient haben“. Das Wort „enforcer“ bedeutet Vollstrecker. Das sind jene Typen, die bei der Mafia für das Schuldeneintreiben zuständig sind. Im Rugby befördern sie ihre Opfer ins Krankenhaus. Wenn sie Glück haben, nur mit einem Knochenbruch oder einer Muskelverletzung.

Ex-Profi warnt: „Fürs Gehirn gibt’s keine Ersatzteile“

Auch im Finale stehen Profis, die mehrere Hirntraumata erlitten haben, etwa Richie McCaw und Kieran Read von den All Blacks. Der Australier Tatafu Polota-Nau ist so ein Extremfall, dass ihn Ex-Nationalspieler Peter FitzSimons 2012 aufforderte, nach zwölf Gehirnerschütterungen aufzuhören. Und? Der 30-jährige Hakler spielt noch immer. Auch Steve Devine kehrte stets zurück, ehe ein Arzt 2007 die Karriere des damals 30-jährigen Neuseeländers beendete. Nach dem letzten Schlag konnte er sich nicht mehr konzentrieren, hatte Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, wurde lärm- und lichtempfindlich, schlief nach der kleinsten Anstrengung ein. Zweieinhalb Jahre litt er an Dauermigräne, testete 40 bis 50 Medikamente, ehe ihn Botox von den Schmerzen befreite. „Ich weiß nicht, ob sich das Gehirn selbst geheilt hat oder ob es gelernt hat, damit umzugehen“, sagte Devine vier Jahre nach dem erzwungenen Ende, „aber erst jetzt fühle ich mich wieder so wie vor dem letzten Schlag.“ Seine Warnung an alle Rugby-Spieler: „Denkt daran, ihr könnt euch eine neue Hüfte oder ein künstliches Kniegelenk einsetzen lassen, aber ihr habt nur ein Hirn, für das es keine Ersatzteile gibt.“