Rasen war gestern: Dicht an dicht stehen die Motorräder sonntags am Glemseck und ernten viele neugierige Blicke. Foto: Max Kovalenko/PPF

Fast 50 Jahre nach den letzten Rennen ist der alte Mythos der Rennstrecke am Glemseck weiter spürbar.

Leonberg - Benzin liegt in der Luft. Alle paar Minuten durchschneidet ein dumpfes Grollen das stetige Konzert der Grillen und lässt einem zuweilen den Atem stocken. Im grünen vermeintlichen Nirgendwo zwischen der Autobahn  8 und dem Schloss Solitude blinzelt die Sonne durch die hohen Baumwipfel am Glemseck und streichelt das gepflegte Blech Hunderter Motorräder, denen ihre Besitzer gerade eine Auszeit gönnen.

Es ist kurz vor Mittag, an einem der eher spärlichen sonnigen Sonntage in diesem Jahr. Biker geben sich gern als harte Jungs, doch die meisten holen ihre Lieblinge nur aus der Garage, wenn das Wetter mitspielt. Die beschauliche Landgaststätte mit ihrer unter Bikern schon legendären Adresse Glemseck 1 ist sonntags so etwas wie der Nabel der südwestdeutschen Motorradwelt.

Ein Blick auf die Kennzeichen der Maschinen verrät, dass die Motorradfreunde aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmen, um an der traditionsreichen einstigen Rennstrecke Solitudering ein paar nette Stunden unter ihresgleichen zu verbringen. Neben den dicht geparkten Maschinen wird gefachsimpelt, im Biergarten trifft man sich auf ein alkoholfreies Bier.

Führerschein ist wichtiger als das hohe Tempo

Arend Ristau hat eine konkurrenzlos kurze Anfahrt. Im engen schwarzen Shirt unter der Tarnjacke zeichnet sich der muskelgestählte Körper des 51-jährigen Gerlingers ab, dreieinhalb Jahrzehnten Bodybuilding sei Dank. Ein Biker wie aus dem Bilderbuch. Schon als Kind sei er mit seinem Vater regelmäßig an der Solitude gewesen, erzählt er, während er liebevoll auf seine Suzuki BKing mit Hayabusa-Motor blickt. 200 PS, das ist ein Wort. Von null auf hundert in drei Sekunden: kein Problem – theoretisch.

„Ich fahre immer defensiv“, versichert er lächelnd, „immer ums Viereck rum.“ Sein Führerschein ist ihm wichtiger als das hohe Tempo. Mit den Polizeikontrollen sei es schlimm geworden in den letzten Jahren, schimpft Ristau. „Reine Geldmacherei! Das ist doch eine abgelegene Strecke, wo keiner gefährdet wird.“ Zu gut kann er sich noch an die späten Sechziger erinnern, in denen die charmante Rennstrecke zu einem inoffiziellen Testparcours für Wagemutige mutierte. „Früher gab es keine Vorfahrtsschilder, kein Tempolimit, nichts“, erzählt er. „Da haben sie’s krachen lassen, mit Stoppuhr und allem.“ Dem trauert er freilich nicht hinterher, zumal er weiß, dass das Risiko mitfährt. „Ist halt ’ne richtige Männersache“, sagt er trotzig und lächelt. „Auf dem Motorrad fühl’ ich mich einfach wohl.“

Immer wieder kamen allzu kühne Biker ums Leben

Die ganz wilden Zeiten sind vorbei. Auf vielen Teilen des Rundkurses, der sich hinter dem Glemseck den Berg hoch schlängelt, gilt heute Tempo 50 – und das aus gutem Grund: Immer wieder kamen hier in den vergangenen Jahren allzu kühne Biker ums Leben. Am Straßenrand, nur ein paar Meter vom Biergarten entfernt, steht ein Kreuz umrahmt von frischen Blumen. Emil starb mit Anfang 30. Die Idylle trügt manchmal – für manche wurde sie zur grünen Hölle.

Zum Wagemut der meist jungen Draufgänger trägt auch der Mythos bei, der die einstige Rennstrecke seit über 100 Jahren umweht. Schon 1903 gab es den ersten Bergsprint für Motorräder vom Stuttgarter Westbahnhof hinauf zum Schloss Solitude. Bis zu 22 Kilometer lang wurde in der Folgezeit die Strecke, die bis in 1920er Jahre hinein auch von Rennwagen befahren wurde.

Auch fast 50 Jahre später ist der Ring immer noch etwas Besonderes

Danach galt der schnelle Kurs als zu gefährlich für Autos. Nachdem er bereits ins Mahdental verlagert worden war, begann 1949 die große Blütezeit des Rings. Bis zu einer halben Million Schaulustige sollen es gewesen sein, die in den Fünfzigern dem Rennbetrieb beiwohnten, der 1964 mit Motorradrennen aller Klassen und einem Formel-1-Grand-Prix seinen letzten Höhepunkt erreichte. Nur ein Jahr später gingen auf den 11,5 Kilometern die Lichter aus.

Auch fast 50 Jahre später ist der Ring immer noch etwas Besonderes, Geschwindigkeitsbeschränkungen hin oder her. Auch wenn die quietschenden Reifen am Glemseck manchmal anderes vermuten lassen könnten: Rasen war gestern. Daneben appelliert die Polizei an die Vernunft der Biker, einen ordentlichen Helm zu tragen. Das richtet sich vor allem an Harley-Davidson-Liebhaber wie Bernd Neumann, einen Bastler „Mitte 40“ aus Ostfildern, der über seinen guten alten Kopfschutz lachend sagt: „Ich will ja was hören.“ Dass ein solches Modell maximal gegen Regen schützt, scheint ihn nicht zu stören. Immerhin: Mit den 68 PS seiner Super Glide ist er gemächlich unterwegs. Er kommt aber nur noch selten an den Ring, wegen der Polizeipräsenz, wie er sagt. Denn auch für Helme gibt es Knöllchen.

Als die ersten Regentropfen auf den Lack der allseits bestaunten Maschinen treffen, ergreifen die meisten Biker schlagartig die Flucht. Ungeduldig grummeln und knallen die Motoren, doch einen echten Kavalierstart sucht man vergebens. Ruhig Blut, lautet die Devise, auch wenn das Wetter streikt. Der nächste Sonntag kommt bestimmt.