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Sind nukleare, biologische oder chemische Waffen in den Händen von Fanatikern gelangt?

Berlin - Wikileaks behauptet, dass sich El Kaida nukleares Material für den Bau schmutziger Bomben beschaffen will. Diese mit radioaktivem Material bestückten Sprengsätze könnten Massenpanik und Angst vor dem Strahlentod verbreiten.

In Sicherheitskreisen steht fest: Sie ist der Traum eines jeden islamistischen Fanatikers - die Atombombe. Eine Vernichtungswaffe, um die Feinde des Islam von der Landkarte zu fegen. In den Händen von El-Kaida-Terroristen ist sie der ultimative Albtraum des Westens. Die Hürden, um in den Besitz eines Nuklearsprengkopfs oder spaltbaren Materials zu kommen, sind fast unüberwindlich hoch. Die sogenannten Atommächte USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Pakistan, Indien und China unterwerfen ihre Waffenarsenale strengen internationalen Kontrollen. Gleiches erwarten sie von Nordkorea, Israel oder dem Iran, die in Verdacht stehen, die Bombe schon zu haben oder an ihr zu bauen.

Seit Jahrzehnten verdächtigen Regierungen oder Sicherheitsbehörden vieler Länder ihre jeweiligen Gegner, sich an der sogenannten schmutzigen Bombe schaffen zu machen. Hierbei handelt es sich um herkömmliche Sprengköpfe, die bei der Explosion radioaktives Material ausstreuen und ein Gebiet auf Jahren verseuchen.

El Kaida bemüht sich um Uran und Plutonium

Die Nato nimmt diese Bedrohung sehr ernst und dringt seit dem Ende des Kalten Krieges auf Nichtverbreitungsabkommen für Massenvernichtungswaffen, die verhindern sollen, dass mit radioaktiv aufzuarbeitendem Material Handel getrieben wird. Auch die Enthüllungsplattform Wikileaks berichtet von Quellen, die seit 2008 behaupten, El Kaida bemühe sich um spaltbares Uran oder Plutonium, um radioaktive Bomben zu bauen. Ranghohe Sicherheitsexperten warnen vor "selbst gebastelten radioaktiven Sprengsätzen".

Nukleare, biologische oder chemische Waffen in den Händen von Fanatikern, die nicht vor der Vernichtung Hunderttausender zurückschrecken? Ob El Kaida tatsächlich in der Lage ist, sich hochangereichertes Uran für den Bau einer Atombombe oder radioaktives Material für schmutzige Bomben zu beschaffen, ist umstritten. Offen ist auch, ob das Terrornetzwerk eine solche Bombe erstens konstruieren und zweitens unbemerkt ins Zielgebiet schmuggeln kann.

Graham Allison, Harvard-Professor und Experte für Nuklearterrorismus, hält es "für wahrscheinlicher, dass es in den nächsten fünf Jahren auf der Welt zu einem nuklearen oder biologischen Anschlag kommt", als dass dies nicht geschieht. Dieses Schreckensszenario schließe auch schmutzige Bomben ein. Auch David Albright vom Institute for Science and International Security in Washington meint: Terroristen können "eine improvisierte Atomwaffe bauen".

Anschlag mit schmutziger Bombe sei überfällig

Weltweit lagern schätzungsweise 22.000 Nuklearsprengköpfe in Atombunkern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich El Kaida hieran bedient oder eine ausreichende Menge an Spaltmaterial zusammenkauft, sei "eher gering", erklärt Frank Sauer von der Münchner Universität der Bundeswehr. Er hält den Nuklearterrorismus für eine akute Bedrohung - aber auch für einen "überschätzten Albtraum". Realistischer seien Anschläge mit schmutzigen Bomben. "Das ist überfällig."

Bei der Dirty Bomb handelt es sich um einen konventionellen Sprengsatz, der radioaktives Material wie beispielsweise Cäsium 137, Cobalt 60, Iridium 192, Strontium 90 oder Plutonium enthält. Die Rückstände stammen aus der Nuklearmedizin oder Industriegeräten zur Materialprüfung. Der Schmuggel kleiner Mengen an hochangereichertem Uran ist offenbar nach wie vor möglich. Für den Bau einer Atombombe werden mindestens 25 Kilogramm hochangereichertes Uran benötigt. "Wenn ein Terrorist auf dem Schwarzmarkt ein, zwei Kilogramm kauft, macht er damit gar nichts", sagt der Physiker und Nuklearexperte Giorgio Franceschini von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Ein US-Terrorexperte habe ihm gesagt: "Schmutzige Bomben sind etwas für Verlierer, die nichts drauf haben." El Kaida spiele in einer anderen Liga. Franceschini: "Sie streben nach hohen Opferzahlen."

Dieser Ansicht ist auch Egmont R. Koch, Terrorexperte und Autor des Buches "Atomwaffen für Al Kaida". Er bezweifelt, dass der Bau schmutziger Bomben auf der "Agenda El Kaidas" steht. "Wenn es ein Ziel der Terroristen wäre, an radioaktives Material für den Bau zu kommen, wäre ein Anschlag längst erfolgt." Seine Befürchtung: El Kaida plant weit Schlimmeres - den Bau der Atombombe.

2003 rechtfertigten die USA den Irak-Krieg mit Atombedrohung

Für US-Präsident Barack Obama steht fest: "Die größte einzelne Bedrohung für die Sicherheit der USA geht von der Möglichkeit aus, dass Terrororganisationen Atomwaffen erlangen." Seit Jahren soll deshalb El Kaida die politisch instabile Atommacht Pakistan im Visier haben und die Islamisten dort unterstützen. Der im Mai 2010 durch eine US-Drohne getötete El-Kaida-Chef in Afghanistan, Mustafa Abu al-Jasid, hatte gegenüber dem Fernsehsender Al Dschasira fabuliert, was im Falle eines Sieges von El Kaida über Pakistans Armee geschehe. "So Gott will, würden die Atomwaffen nicht in die Hände der Amerikaner fallen, und die Mudschaheddin würden sie nehmen und sie gegen die Amerikaner einsetzen."

Kanzlerin Angela Merkel warnte zuletzt beim Washingtoner Atomgipfel 2010 vor dem Einsatz dieser Waffe durch Terroristen. Doch diese Szenarien täuschen über einen Umstand nicht hinweg: Es gehört genauso zur psychologisch-strategischen Kriegsführung des Westens, gegnerischen Staaten oder Terrororganisationen zu unterstellen, die Atomkarte ziehen zu wollen. Die USA rechtfertigten 2003 den Krieg gegen den Irak damit, dass Saddam Husseins Regime Massenvernichtungswaffen besitze - eine Lüge, wie US-Außenminister Colin Powell später vor dem Weltsicherheitsrat eingestehen musste. Die Erfindung der "Achse des Bösen" - also feindlich gesinnter Staaten mit vermeintlich unkontrollierbaren Waffenarsenalen - ist ebenfalls nicht neu. Solche Bedrohungskulissen wurden schon während des Kalten Krieges vom Warschauer Pakt genau wie von der Nato aufgebaut und stimmten die Bevölkerung darauf ein, sich mit teuren Rüstungsprojekten gegen jede neue Gefahr von außen ausstatten zu müssen. Je größer sie die Bedrohung erscheinen lässt, umso eher kann eine Regierung darauf setzen, grünes Licht für entsprechende Maßnahmen zu erhalten.

Aus Sicht der Terroristen sind die einfachsten Mittel oft die wirkungsvollsten. So richtet konventioneller TNT-Sprengstoff oder ein Gemisch aus Diesel und Ammoniumnitrat-Dünger verheerende Schäden an. Sauer: "Für schreckliche Anschläge wie in Mumbai braucht man keine nuklearen Quellen." Im November 2008 töteten in der indischen Metropole zehn schwerbewaffnete Terroristen 174 Menschen.

Auch der Essener Terrorismusforscher Rolf Tophoven hält den konventionellen Terrorkrieg von El Kaida für so effizient, dass die Islamisten nicht nach schmutzigen oder atomaren Bomben zu streben brauchen. "Die Meldungen darüber sollen die Menschen verunsichern. Das ist psychologische Kriegsführung. Sprengladungen, Kalaschnikows und Suizidtäter reichen aus, um genug Schrecken zu verbreiten." Nach Aussage Tophovens setzt die Terrororganisation vielmehr auf eine Machtübernahme der Islamisten in Pakistan. Sollten die Radikalen das nukleare Arsenal des Landes kontrollieren, hätten sie gegenüber dem Westen ein "riesiges Erpressungspotenzial".