Warnsignale: Kinder von psychisch Kranken sind oft auffällig unauffällig. Foto: Gina Sanders / Fotolia

Kinder von psychisch kranken Eltern habe es sehr schwer. Das Projekt Aufwind in Stuttgart will die Lücke im System schließen, damit Betroffene nicht zu spät in den Blick eines Hilfesystems geraten und hofft auf eine Regelfinanzierung.

Stuttgart - Die junge Frau sitzt gefasst in einem Raum der Diakonie in der Büchsenstraße in Stuttgart. Helen (23) kann gut erzählen, doch wenn man auf die Zwischentöne achtet, merkt man, dass es ihr nicht leicht fällt, ihr Leben zurück zu spulen bis zu den oft traurigen Momenten ihrer Kindheit.

Ein Erlebnis ist besonders haften geblieben. Es war der Tag an dem die damals Elfjährige eigentlich an den Bundesjugendspielen hätte teilnehmen sollen. Sie konnte aber nicht, weil sie sich um ihre Mutter kümmern musste, die seit Jahren an bipolaren Störungen leidet, einer manisch-depressiven Erkrankung. In dieser Phase hatte sie wieder einmal völlig den Bezug zur Realität verloren, wurde gequält von psychotischen Gedanken, sah überall Mäuse, wollte als Adler ihren Horst verteidigen. Da konnte Helen doch nicht in die Schule gehen.

Um einen Vorwand für das Fernbleiben zu haben goss sich das Mädchen heißes Wasser über die Füße. „Das war ein Hilferuf, aber die Lehrer haben nicht reagiert, weil ich ja gute Noten hatte und immer funktioniert habe“, sagt Helen, die wie ihre drei Geschwister auffällig unauffällig war. Anvertrauen konnte sich die damals Elfjährige niemandem weil der Vater sie und ihre drei Brüder anhielt, die Heile-Welt-Fassade nach außen unbedingt aufrecht zu erhalten.

Die Hemmschwelle, um Hilfe zu bitten ist groß

Mit den Kindern hat der berufliche erfolgreiche Mann nie über die Krankheit gesprochen. Und auch unter den Geschwistern war das Thema ein Tabu. Insgesamt war die Mutter fast 18 Monate in stationärer Behandlung. Aber niemand hatte davon gewusst.

Neben Helen sitzt der heute 19-jährige Mathis. „Wir haben Freunden und Lehrern immer wieder neue Lügengeschichten von Fortbildungen und Urlaub erzählt“, sagt Mathis. Wie Helen litt er damals unter Scham- und Schuldgefühlen, fühlte sich für das komische Verhalten der Mutter verantwortlich. „Jedes Kind hat eine Mauer aufgebaut, war für sich selbst hilflos und keiner hatte einen Rettungsring dafür“, erzählt Helen. Die Hemmschwelle, um Hilfe zu bitten war groß, weil eine psychische Erkrankung noch immer mit einem Stigma verbunden sei. Zum anderen fürchteten sie auch den Gang zum Jugendamt, weil sie Angst hatten der Mutter weggenommen zu werden.

„Diese Biographie ist typisch. In den Kliniken kümmert man sich nur um den Patienten, nicht aber um die Familie“, sagt Kirsten Wolf, Mitarbeiterin im Gemeindepsychologischen Zentrum (GpZ) der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in Vaihingen. Sie wollte die Lücke zwischen sozialpsychiatrischen Hilfen und der Jugendhilfe schließen und engagiert sich seit drei Jahren für das Projekt Aufwind.

Das Risiko dieser Kinder, selbst an einer psychischen Störung zu erkranken, ist hoch. Helen kann das bestätigen. Sie musste viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen und in die Mutterrolle schlüpfen für ihre drei Brüder. Daran wäre sie fast zerbrochen, suchte mit 14 Jahren Trost im Alkohol. Und als der Vater vor fünf Jahren die Familie verließ, kam noch mehr Verantwortung auf sie zu. Ihre innere Not hat niemand bemerkt.

Das Projekt steht auf der Kippe

Als die Mutter vor einem Jahr einen Suizidversuch überlebte und auch noch eine Form von Schizophrenie diagnostiziert wurde, war Helen am Limit und erkrankte selbst an einer Depressionen. „Erst in der Therapie habe ich gelernt, dass ich aus der Mutterrolle rauskommen muss“, sagt Helen.

Eine Einrichtung wie Aufwind hätte ihr und ihren Brüdern helfen können, doch das Projekt steht auf der Kippe. „Die Finanzierung ist im März ausgelaufen und jetzt hoffen wir auf eine Regelfinanzierung und eine Berücksichtigung im neuen Doppelhaushalt der Stadt“, sagt der Eva-Vorsitzende Heinz Gerstlauer. Helen und Mathis wollen die Erfahrungen weitergeben und aufklären. „Wichtig sind erst einmal niederschwellige Angebote und dass wir in den Kliniken präsent sind“, sagt Kirsten Wolf.