Pfarrer Rudolf Pfisterer in seinem Studierzimmer Foto: Archivfoto Haller Tagblatt

1948 ging der württembergische Pfarrer Rudolf Pfisterer freiwillig in Kriegsgefangenschaft nach Frankreich, um junge Gefangene zu betreuen. Die Erfahrungen prägten seinen Lebensweg.

Stuttgart - Zweieinhalb Jahre nach der Heimkehr aus kanadischer Kriegsgefangenschaft kam der Anruf aus dem Oberkirchenrat in Stuttgart. Der junge Pfarrer aus Gelbingen bei Schwäbisch Hall war der Dreißigste, den die württembergische Kirchenleitung gebeten hatte, einen Kollegen in Frankreich abzulösen – und er sagte Ja. „Das Schicksal der jungen Männer, die wenige Monate gedient hatten und seit drei Jahren gefangen waren, hat ihn sehr bewegt“, erzählt sein Sohn Dieterich, der damals mit der Mutter und den zwei jüngeren Geschwistern im Pfarrhaus in Gelbingen bei Schwäbisch Hall zurückblieb – nicht wissend, wann der Vater zurückkommen würde.

Gut ein halbes Jahr – bis zur Abreise des letzten Kriegsgefangenen im November 1948 – blieb Pfisterer in Montélimar, um die jungen Männer zu betreuen. Einer von ihnen war Egon Breier. Der damals 21-Jährige hatte bereits mehr als zwei Jahre in einem Steinbruch gearbeitet und bei der französischen Bahn Güterzüge entladen, bevor er im Oktober 1947 entkräftet ins Lager kam. Dort durfte er die Bibliothek leiten, die ein Schweizer Pfarrer zur Verfügung gestellt hatte. Pfisterer habe sich gut um alle gekümmert, berichtet der 87-jährige Malermeister aus Stuttgart. Ihm konnten sie ihre Nöte und Ängste anvertrauen. Abends habe er oft mit ihnen zusammengesessen, die Bibelabende und Singstunden, bei denen Lieder und Choräle für die sonntäglichen Gottesdienste geübt wurden, seien gut besucht gewesen. Der Kontakt blieb, später wurde Breier Pate einer Tochter Pfisterers.

Die Zeit im französischen Lager, die Begegnung mit französischen Christen und Juden, stellte die Weichen für Pfisterers weiteren Weg. Nach seiner Rückkehr baute er mit seiner Gemeinde erst einmal die Kirche wieder auf, die 1945 zerstört worden war. 1952 übernahm er die Seelsorge im Gefängnis in Schwäbisch Hall, von 1953 an bis zu seinem Ruhestand 1977 war er im dortigen Jugendgefängnis tätig, von 1970 an als Dekan auch für die baden-württembergischen Pfarrer im Strafvollzug zuständig.

In jeder freien Minute aber zog es ihn in sein Studierzimmer: Das Verhältnis zwischen Juden und Christen wurde zum Lebensthema des 1914 in Weinsberg geborenen Pfarrersohns. Schon während seines Theologiestudiums in Tübingen, Bonn und Königsberg hatte er sich mit dem Judentum beschäftigt. 1935 sei ihm klargeworden, „dass die im Alten Testament bezeugte Souveränität Gottes und in ihrer Konsequenz der jüdische Nonkonformismus ein direkter Affront gegen den Nationalsozialismus war“, sagt Michael Volkmann, Beauftragter der Landeskirche für das Gespräch zwischen Christen und Juden, der sich mit dem Nachlass Pfisterers befasst hat. Im selben Jahr sei er aus der SA ausgetreten, der er seit 1932 angehörte. Aus Protest gegen die Angriffe der Nationalsozialisten auf das Alte Testament überzeugte er als Vikar in Schramberg zwölf katholische und evangelische Pfarrer, den Treueeid auf Hitler zu verweigern – was ihm in seiner militärischen Personalakte den Vermerk „staatspolitisch unzuverlässig“ eintrug. Während des Krieges war er Soldat. Eine Typhusinfektion während eines Heimaturlaubes rettete ihm das Leben – zur gleichen Zeit schloss sich der Ring um seine Kameraden in Stalingrad.

Als Wendepunkt beschreibt Pfisterer die Begegnung mit Jules Isaak 1948. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Generalsekretär im französischen Bildungsministerium für die deutsch-französische Versöhnung starkgemacht, war während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis von Christen versteckt worden und hatte ein Buch zum Verhältnis von Jesus und Israel verfasst. Als er bei einem Treffen mit französischen Pfarrern von der Ermordung seiner Frau und seiner Tochter in Auschwitz erzählte, saß Pfisterer als einziger Deutscher dabei. „Ich hätte mich verkriechen mögen“, schrieb er in seinen Memoiren. Doch Isaak reichte ihm in aller Öffentlichkeit die Hand – für Pfisterer „ein Zeichen der Versöhnung“. Er schwor sich, dem „Unheil an die Wurzel“ zu gehen und den Antisemitismus und seine Wurzeln in der christlichen Theologie zu erforschen.

Im Lauf der Jahre knüpfte er Kontakte zu französischen Theologen – auch nach Taizé – und zu Historikern und übersetzte theologische Texte aus dem Französischen. Er veröffentlichte eigene Aufsätze und initiierte 1960 die Radio-Sendereihe „Juden – Christen – Deutsche“. Er wurde in die Vorbereitungsgruppe zum Berliner Kirchentag berufen, aus der die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen des Evangelischen Kirchentags hervorging. Jahrelang arbeitete er mit und verließ sie später mit Bitterkeit: Die Kritik mancher Mitglieder trug aus seiner Sicht antisemitische Züge.

Antijudaismus und Antizionismus waren für ihn „Verkleidungen des Antisemitismus“. Um den Antisemitismus im Christentum geht es in seinem Buch „Im Schatten des Kreuzes“ von 1966, das auch im Unterricht eingesetzt wurde. Mit der „Machtergreifung des Christentums“ im 4. Jahrhundert habe sich der Antijudaismus Bahn gebrochen, Reformation und Gegenreformation im 16. Jahrhundert hätten diesen noch verstärkt, sagt er. Von 1975 an macht er mit seiner Übersetzung deutschen Lesern die sechsbändige „Geschichte des Antisemitismus“ des französischen Historikers Léon Poliakov zugänglich. „Wenige Christen bearbeiten das Thema Antisemitismus in unserer Zeit so gründlich, wie es Rudolf Pfisterer getan hat“, bilanziert Volkmann.

Als Pfisterer 2005 stirbt, hinterlässt er einen großen Schatz. Rund 3500 Bücher und Schriften zum christlich-jüdischen Dialog hat er zusammengetragen, einige selbst verfasst oder übersetzt. Seine Familie hat entschieden, die Sammlung der Bibliothek und dem Archiv der Evangelischen Landeskirche Württemberg zur Verfügung zu stellen – damit ist diese auch Interessierten zugänglich. Eine Sonderausstellung in der Landeskirchlichen Zentralbibliothek in Stuttgart gibt einen Einblick in Leben und Werk. Sie ist noch bis Oktober zu sehen.