Sie begleiten den Bürgerrat Klima: Bruno Wipfler (li.) und Jan Kohlmeyer (r.) von der Stadt Stuttgart. Den Impuls hatte Irene Kamm (Mitte) mit ihren Freundinnen gegeben. Foto: Lichtgut//Leif-Hendrik Piechowski

61 zufällig ausgewählte Stuttgarterinnen und Stuttgarter beschäftigen sich an sechs Samstagen mit der Frage, wie die Stadt klimaneutral werden kann. Es geht dabei um kontroverse Themen – etwa den Wegfall von Parkplätzen für Rad- oder Fußwege.

Wem gehört der Platz am Straßenrand? Den parkenden Autos? Radfahrern? Fußgängern? Gastronomen, die dort Tische aufstellen? Und wie teilen es sich Mieter und Vermieter fair auf, wenn ein Haus energetisch saniert wird? „Es gibt manche Themen, für die die Politik lange Zeit keine Lösung findet“, sagt Jan Kohlmeyer, der Leiter der Stabsstelle Klimaschutz bei der Stadt Stuttgart. Womöglich aber finden die Menschen, die in der Stadt wohnen, gute Kompromisse für kontroverse Themen. Deshalb gibt es in Stuttgart nun einen sogenannten Bürgerrat Klima. Am Samstag, 4. März, treffen sich die 61 zufällig ausgewählten Personen zum ersten Mal.

Bis Mitte Juni tagt der Bürgerrat Klima an sechs Samstagen, jeweils für acht Stunden. Anfangs bekommen sie Tipps zum richtigen Zuhören und Diskutieren, später werden Gastredner kurze Impulse rund um die Themen Klimawandel, Mobilität und Wärme geben, bevor die Menschen in Kleingruppen diskutieren. Von Juli an sollen dem Stuttgarter Gemeinderat dann die Empfehlungen aus dem Bürgerrat vorgelegt werden.

Zehn Jugendliche sind dabei

Damit diese 61 Menschen tatsächlich den Querschnitt Stuttgarts abbilden, wurde viel Aufwand betrieben. Im Dezember 2022 wurden 6000 Menschen aus dem Einwohnermelderegister per Zufall ausgewählt. Diese wurden per Post angeschrieben, ob sie sich vorstellen könnten, Teil des Bürgerrates zu werden. „In der Regel melden sich fünf bis zehn Prozent zurück, bei uns waren es 14 Prozent, es haben knapp 900 Interessierte geantwortet“, sagt Kohlmeyer. Das zeige, dass der Klimawandel die Stuttgarter bewege. Für uns ist die entscheidende Frage: Was denken Leute, wenn sie sich intensiv mit einem Thema beschäftigt haben? Das sei der Unterschied zu Kommentaren in den sozialen Netzwerken oder unter Zeitungsartikeln, wo auch Menschen ihre Meinung kundtun würden, ohne sich mit dem Thema wirklich beschäftigt zu haben.

Im Bürgerrat sitzen insgesamt zehn Personen im Alter von 16 oder 17 Jahren. Die Jugendlichen sollen alle Stuttgarter unter 18 repräsentieren – auch Kinder, die noch nicht mitdiskutieren können. Es sind gesunde und weniger gesunde Menschen dabei. Eine Person wird mit einem Fahrdienst gebracht, weil sie nicht gut zu Fuß ist. Sechs Menschen brauchen Übersetzer, weil Deutsch für sie schwierig ist, noch viel mehr haben einen Migrationshintergrund. Es wird Kinderbetreuung und Angehörigenbetreuung für die Bürgerräte angeboten. So sollen von der Jugendlichen aus Zuffenhausen über den Vater aus Stuttgart-West bis hin zur Rentnerin in Plieningen alle dabei sein können.

Der Impuls kam von einer Sillenbucherin

Auch bei den Gastrednern, die dem Bürgerrat Impulse geben sollen, wurde auf Vielfalt geachtet: So sprechen nicht nur ein Meeresbiologe, jemand von den Scientists for Future und den Psychologists for Future, Vertreter von Fuß e.V. oder dem Bund für Umwelt und Natur (BUND), sondern auch ein Verein, der sich für die Verlängerung des Verbrennermotors einsetzt, sowie Vertreter von Mercedes, der EnBW oder der städtischen Wohnungsbaugesellschaft SWSG. „Wir haben eine Buntheit und Vielfalt hinbekommen“, findet Bruno Wipfler, der bei der Stadt für den Bürgerrat Klima verantwortlich ist. „Und was es so besonders macht, ist, dass alle Perspektiven im Bürgerrat bereits vorhanden sind.“ Deshalb gehe er davon aus, dass die Gruppe akzeptanzfähige Lösungen für alle entwickeln werde.

Die Idee für einen Bürgerrat Klima kam nicht aus der Stadtverwaltung oder dem Gemeinderat, sondern aus der Freundesgruppe und späteren Bürgerinneninitiative rund um Irene Kamm. Die Krankenschwester ist seit Kurzem im Ruhestand, außerdem Bezirksbeirätin in Sillenbuch. Vor rund drei Jahren habe sie großen Frust empfunden: Täglich habe sie über den Klimawandel gelesen, Fridays for Future protestierte, gefühlt habe sich aber wenig in der Politik getan. „Die Diskussion war beherrscht von Polemik und teils Fake News, extremistische Parteien legten zu, es gab kein Suchen nach einer gemeinsamen Lösung.“ Sie wusste, dass es anderswo Bürgerräte gab, „das erschien uns als gute Sache im Kampf gegen den Klimawandel und als neues Demokratieinstrument“. Die Gruppe sammelte Unterschriften – und überreichte diese 2021 im Rahmen eines Einwohnerantrags an die Stadt mit der Forderung zur Bildung eines Bürgerrates.

Anfangs gab es Vorbehalte, manche Lokalpolitiker befürchteten, ihnen werde die Arbeit weggenommen. Am Ende sprachen sich fast alle Fraktionen im Gemeinderat für einen Bürgerrat aus. Irene Kamm sieht in dem Gremium klare Unterschiede zu den Bezirksbeiräten oder dem Gemeinderat: „Bürgerräte sind einerseits zeitlich begrenzt und diskutieren nur zu einem Thema, andererseits bekommen die Bürger keinen Druck von irgendwo, sie haben nichts zu verlieren, müssen nicht wiedergewählt werden.“ Diese Freiheit führe dazu, dass Empfehlungen aus Bürgerräten oft „etwas mutiger“ seien.

Mitglieder des Bürgerrats bleiben anonym – vorerst

Die Kehrseite der Medaille: Solange es die Menschen nicht explizit anders wollen, bleiben sie in der Anonymität, bis der Bürgerrat seine Arbeit beendet hat. Dadurch soll verhindert werden, dass Nachbarn, Bekannte oder gar Entscheidungsträger auf die Menschen einwirken.

Das Vorbild für die Bürgerräte Klima – inzwischen gibt es diese in mehreren Städten – war der Abtreibungskonflikt in Irland. Jahrelang diskutierten Politiker das Für und Wider, dann wurde eine Bürgerversammlung eingesetzt. Kurz nach dem Veröffentlichen der Ergebnisse wurden Abtreibungen in Irland legalisiert. „Beim Klimaschutz beobachten wir ebenfalls eine Polarisation“, sagt Kohlmeyer. Teils gebe es extreme Ansichten, die breite Mitte sei aber für Klimaschutz und wolle eine Veränderung. Und wie diese Veränderungen in Stuttgart aussehen könnten, wird sich bis Sommer zeigen.

Bürgerrat tagt bewusst ohne Öffentlichkeit

Ablauf
Die Auftaktveranstaltung des Bürgerrats ist am Samstag, 4. März. Zunächst spricht der Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), danach stellen sich die Initiatoren und Moderatoren vor. Ab dann ist die Sitzung nur noch den Teilnehmern des Bürgerrats vorbehalten. Bis Mitte Juni gibt es sechs Sitzungen. Im Juli soll jede Empfehlung aus dem Bürgerrat dem Stuttgarter Gemeinderat vorgelegt werden.

Beteiligte
Moderiert wird der Prozess vom Stuttgarter Kommunikationsbüro Ulmer, durchgeführt von der Beratungsfirma Ifok. Der Bürgerrat Klima wird von der Stadt Stuttgart finanziert, die Stadtverwaltung sowie der Gemeinderat halten sich aus dem Prozess aber völlig raus. Das Fraunhofer-Institut evaluiert den Bürgerrat und schreibt einen abschließenden Bericht.