Schülerinnen und Schüler sollten die Akteure und Strukturen in einer Demokratie kennen, betont der Politikwissenschaftler Michael Wehner. Foto: imago//Daniel Schoenen

Um die politische Bildung deutscher Schüler ist es nicht gut bestellt. Viele junge Leute wissen zu wenig darüber, wie Politik in der Bundesrepublik funktioniert, sagt der Politikwissenschaftler Michael Wehner.

Bedeutung und Funktionsweise der Demokratie werden von vielen jungen Menschen nicht recht verstanden, sagt Michael Wehner. Der Experte für politische Bildung fordert deshalb mehr Gemeinschaftskundeunterricht quer durch alle Schularten.

Herr Wehner, gibt es einen Demokratie-Analphabetismus unter Schülern?

Analphabetismus wäre zu hoch gegriffen. Aber wir stellen fest, dass gerade junge Menschen zu wenig darüber wissen, wie Politik – ihre Strukturen und Prozesse – funktioniert.

Wie macht man junge Leute skeptisch gegenüber allzu einfachen Antworten oder Manipulationen?

Kritische politische Bildung will, dass sich skeptische Bürger mit Informationen aus verlässlichen Quellen beschäftigen und sich auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und objektiver Fakten ein Urteil bildet.

Wie lehrt man, Legenden, Lügen und Propaganda zu entlarven?

Zunächst muss man auf Augenhöhe zuhören. Dann gilt es, die Legenden infrage zu stellen, den Widerhaken zu setzen und zu sagen: Das kann nicht stimmen, oder diese Fakten sind ungeprüft. Dann steckt man mitten in der Kärrnerarbeit des Argumentierens.

Sind die Lehrer in der Lage, zum Beispiel Verschwörungstheorien zu begegnen?

Dazu gibt es immer mehr medienpädagogische Unterrichtseinheiten in diversen Fächern. Aber letztlich hängt das von der Fachkompetenz des jeweiligen Lehrers ab und der Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, sich selbst neue Inhalte anzueignen und sie dann schülergerecht zu vermitteln.

Warum sollten Schüler wissen, wie das politische System der Bundesrepublik funktioniert?

Sie müssen die Akteure und Strukturen kennen, in denen demokratische Politik funktioniert, dass die Wählerinnen und Wähler und die Parteien die Schlüsselakteure dabei sind, Mehrheiten zu gewinnen. Und sie sollten den Wert einer möglichst breiten Toleranz lernen. Was aber nicht gleichbedeutend damit ist, dass alle Werte gleich gültig sind. Es lohnt, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten und Autoritäres oder Diktatorisches entgegenzutreten.

Werden die Schulen ihrem Auftrag gerecht, zur Demokratie zu erziehen, oder gibt es da Luft nach oben?

Aus der Sicht der politischen Bildung werden sie dem Auftrag nicht gerecht. Das Fach Gemeinschaftskunde wird in Baden-Württemberg erst von Klasse acht aufwärts an unterrichtet, in manchen Schularten kommt es als Fach gar nicht ausdrücklich vor, und in der Grundschule wird es komplett ausgeblendet. Viele Lehrerinnen und Lehrer unterrichten fachfremd. Sie haben als Mathe- oder Biologielehrer gar keine Ausbildung dazu und machen das aus der Lamäng.

Das Kultusministerium hat 2019 einen schicken Leitfaden Demokratiebildung für die Schulen erstellt. Reicht das?

Der Leitfaden bietet eine Chance, weil man Demokratiebildung nicht auf ein Fach reduziert, sondern verlangt, dies in allen Schularten, -stufen und -fächern zu vermitteln. Wenn es aber alle machen sollen, tut es oftmals niemand. Will man Demokratiebildung wirklich nachhaltiger gestalten, kommt man nicht umhin, die Stunden für Gemeinschaftskunde zu erhöhen und das Fach auf weitere Schulstufen und -klassen auszuweiten. Die Demokratie fällt nicht vom Himmel, sondern muss von jeder Generation stets aufs Neue erworben werden.

Welche Rolle kommen Journalismus und Qualitätsmedien dabei zu?

Durch Internet und soziale Medien hat sich die Vielfalt an Informationsmöglichkeiten erhöht. Die Rolle als Schleusenwärter, die Journalistinnen und Journalisten früher unumstritten besaßen, um Informationen zu filtern, aufzubereiten, nach Wichtigkeit zu bewerten, ist dahin. Das einzelne Individuum ist in den Weiten des Internets aber oft überfordert. Guter Journalismus muss den Menschen dabei auf die Spur helfen, welche Dinge in einer Gesellschaft diskutiert und ausgehandelt werden sollten.

Was passiert, wenn man sich nicht mehr über die Fakten einig wird?

Dann ist der Mensch kein soziales Wesen, kein Zoon politikon nach Aristoteles, mehr. Es steckt atomisiert in seiner Blase und künstlichen Wirklichkeit und ist nicht mehr dialogfähig. Wir können uns nicht mehr untereinander verständigen, geschweige denn unsere gemeinsamen Probleme lösen.

Experte für politische Bildung

Experte
 Michael Wehner, 59, ist Politikwissenschaftler und leitet die Abteilung „Regionale Arbeit“ bei der Landeszentrale für politische Bildung (LpB). Außerdem lehrt er am Seminar für wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg.

Politische Bildung
 Die LpB unterstützt Schulen bei der politischen Bildung jenseits des Schulalltags etwa mit einer Instagram-Talkreihe zur Diversität, mit Plan- und Rollenspielen zur „Festung Europa“, zur Kommunalpolitik, zum humanitären Völkerrecht oder mit einer Lehrerfortbildung zum Klimawandel. Mehr Informationen unter: www.lpb-freiburg.de.