Das Luftbild zeigt das Ausmaß der Zerstörung, den starken Bewuchs, aber auch die trotz allem erhaltene Schönheit. Foto: Werner Kuhnle

Verborgen unter Gestrüpp steht diese eindrucksvolle Kapelle unscheinbar neben einem beliebten Ausflugsziel. Das Gewölbe unter der Ruine gibt bis heute viele Rätsel auf. Unsere Serie über Lost Places in der Region

Im Verfall noch Würde und Schönheit bewahrt – das kann man nicht von jedem Gebäude sagen. Doch die Kapelle auf einer der künstlich angelegten Inseln im Monrepos-See wird in ihrer Anmut nicht beeinträchtigt. Weder durch das seit einem Bombenabwurf im Zweiten Weltkrieg fehlende Dach des Hauptschiffes, von dem nur noch ein paar morsche Holzbalken an langen Nägeln zeugen, noch durch die wuchernden Bäume und Sträucher, die ihr den Platz streitig machen wollen. Grazil erhebt sich der Turm am nordöstlichen Ende der Insel, wo Felsen zum Ufer hin abfallen. Im Sommer ist die Turmspitze das einzige, das vom Seeschloss Monrepos aus zu sehen ist.

Nur im Winter kann man die Kapelle auf der Insel deutlich erkennen. Foto: Werner Kuhnle

Die verzierten Spitzbögen der leeren Fensterhöhlen lassen vermuten, dass die Kapelle schon seit dem Mittelalter dort steht. Doch der Eindruck trügt. Das Bauwerk wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts errichtet und wird der Neugotik zugeordnet. Es stand auch nicht immer hier, sondern ursprünglich im Park von Stuttgart-Hohenheim. Dort war die Kapelle oder vielmehr die „gothische Kirche“, wie sie in zeitgenössischen Quellen genannt wird, Teil eines „englischen Dorfes“, das allerdings mit Bauten wie etwa einem Schweizerhaus, römischen Tempeln und einer Moschee alles andere als englisch war.

Der Lost Place ist ein Überbleibsel aus dem englischen Dorf des Herzogs

Errichtet worden war das Ganze im Auftrag von Herzog Carl Eugen. Die Gebäude waren größtenteils Originalen nachempfunden, aber im Maßstab 1:4 verkleinert. Ihr einziger Zweck: das Auge zu erfreuen. Auch die Kapelle wurde nie geweiht und nie als solche genutzt. Dafür war sie das einzige Bauwerk der gesamten Anlage, von dem Goethe anno 1797 bei seinem Besuch in Hohenheim beeindruckt war, wie er in seinen Reisenotizen vermerkte.

Im Monrepos-See wurde die Kapelle Stein für Stein wieder aufgebaut. Foto: Werner Kuhnle

Friedrich II., der wenig später Herzog von Württemberg wurde, hatte allerdings mit Hohenheim nichts am Hut. Er ließ deshalb viele der Staffagebauten demontieren und in dem von ihm favorisierten Ludwigsburg sowie im damals selbstständigen Eglosheim wieder aufbauen – darunter auch die gotische Kapelle. Sie fand im Jahr 1803 einen Platz auf einer der neuen künstlichen Inseln des umgestalteten Sees. Dass die damaligen Bauarbeiter dabei akribisch vorgingen, ist heute noch an einzelnen Steinen zu erkennen, die mit Ziffern versehen worden sind. Baumeister Thouret nahm beim Wiederaufbau lediglich kleinere Änderungen vor.

Nur auf die Optik kam es an

Vermutlich hat Friedrich II. die Insel und die Kapelle nie betreten – zumindest ist darüber in den historischen Quellen nichts zu finden. Auch ihm kam es wohl nur auf die schöne Aussicht an. Trotzdem wurde die Kapelle aufwendig gestaltet, etwa mit bunten Glasfenstern, von denen Chronisten schwärmten, und sogar mit einem unterirdischen Gewölbe, dem sogenannten Felsenbauwerk, das – anders als das meiste andere – auch noch erhalten ist.

Das Felsenbauwerk ist noch recht gut erhalten. Foto: Werner Kuhnle

Von außen wirkt der Unterbau der Kapelle wie eine natürliche Klippe. Ursprünglich sei deren Fuß einmal mit Nadelbäumen bepflanzt gewesen, erzählt Rainer Setzer, der bei der Hofkammer, der das gesamte Monrepos-Gelände gehört, für Immobilien zuständig ist. „Die Idee dahinter war, dass man, wenn man weiter nach oben zur Kapelle geht, aus dem Dunkel ins Licht kommt.“ Überhaupt wirke alles zufällig, sei aber sehr genau geplant worden.

An der eigentlichen Kapelle ist der Verfall nicht zu übersehen. Foto: Werner Kuhnle

Die Klippe des Lost Places birgt ein Geheimnis

Dass sich hinter und unter der Klippe ein großer Hauptraum und mehrere Nebenräume verbergen, ist nicht zu sehen – zumal mit etwas Abstand vor den Eingängen zu den Seitengewölben auch große Steine errichtet wurden, die verhindern, dass sie vom Ufer aus zu erkennen sind. Zum Hauptraum gelangt man durch ein aufwendig gestaltetes, aber mittlerweile stark verrostetes Gittertor.

Das Eingangstor stammt noch aus der Bauzeit. Foto: Werner Kuhnle

In dem aus rohen Steinen errichteten Gewölbe, das wie ein Burgkeller wirkt, sollen tatsächlich einmal Ritter gesessen haben– allerdings nur Exemplare aus Wachs, die eine Art Femegericht nachgebildet haben sollen. In Nischen an den Seiten waren dazu wohl Rüstungen aufgestellt.

Baugeschichtlich bedeutend und trotzdem vergessen

Was aus diesen Rittern geworden ist und wann genau sie verschwunden sind, weiß heute keiner mehr, sagt Setzer. Man habe sich wegen der Insellage und der deshalb schwierigen Zugänglichkeit lange nicht richtig um die Kapelle gekümmert.

Eine Ruine mit unterschätzter Bedeutung? Foto: Werner Kuhnle

Dabei ist sie etwas ganz Besonderes, ist in einem Gutachten zu lesen, das die Hofkammer vor zwei Jahren in Auftrag gegeben hat. Sie sei, „wiewohl von außerordentlicher Bedeutung für die Geschichte sakraler Neugotik, ein von der Kunstgeschichte wie auch von der breiten Öffentlichkeit vergessenes Baudenkmal“, heißt es darin. Und das, obwohl „es sich bei der Kapelle um eines der frühsten Beispiele der Neugotik auf dem Kontinent, und wohl um das früheste (!) Beispiel an einem Sakralbau“ handle.

Eine Chance für die Zukunft?

Vielleicht wird sie aber bald aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Man denke darüber nach, den weiteren Verfall zu stoppen und dann auf der Insel freie Trauungen anzubieten, verrät Setzer. Dazu müsse man aber noch Gespräche führen. Denn mit der Öffnung des Monrepos-Geländes für die Öffentlichkeit hatte die Stadt die Bedingung gestellt, dass die Insel nicht betreten werden darf – aus Sicherheitsgründen wegen der Baufälligkeit. „Aber die wäre ja dann kein Thema mehr“, so Setzer.

Geheimnisvolle Orte in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Place ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region Stuttgart vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.