Am Landgericht Stuttgart stehen einige Mammutverfahren an. Foto:  

Immer mehr Großverfahren setzen das Landgericht Stuttgart unter Druck. Man müsse die Situation ernst nehmen, sagt Präsident Andreas Singer.

Stuttgart - Man könnte glauben, es gäbe derzeit nur ein Thema am Landgericht Stuttgart: die Diesel-Klagewelle. Andreas Singer, Präsident des Hauptstadtgerichts, spricht von einer „riesigen Herausforderung“. Allein im ersten Halbjahr 2019 seien mehr als 1100 Klagen gegen den Daimler-Konzern eingegangen. Doch die 171 Richterinnen und Richter am Landgericht haben noch andere Großverfahren vor der Nase.

Eines davon droht schon jetzt den Rahmen zu sprengen. Vor der 16. Wirtschaftsstrafkammer soll am 21. August das Hauptverfahren um die Insolvenz des Windkraftunternehmens Windreich mit Sitz in Wolfschlugen (Kreis Esslingen) beginnen.Dabei wird es um mutmaßlichen Betrug, um Urkunden- und Untreuedelikte gehen. „Das wird ein ganz dickes Brett“, sagt Johannes Fridrich, Noch-Pressesprecher des Landgerichts. Fridrich wechselt in Kürze nach Nürtingen – als neuer Oberbürgermeister.

Anklage umfasst 521 Seiten

Allein die Anklage im Windreich-Verfahren sei dick wie ein Roman, so Fridrich. Sie umfasst 521 Seiten. Die Anklage richtet sich unter anderem gegen den Windreich-Gründer Willi Balz. Am Rande betroffen ist auch der frühere Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP). Beide bestreiten die Vorwürfe. Insgesamt hat es die 16. Strafkammer mit acht Angeklagten und 19 Verteidigern zu tun. Derzeit sind 48 Prozesstage anberaumt.

Doch auch die Schwurgerichtskammern arbeiten an der Belastungsgrenze. „Die Zahl der Mord- und Totschlagsanklagen steigt seit zwei Jahren stark an“, sagt Fridrich. Das führe dazu, dass das Tagesgeschäft oft abends und am Wochenende geleistet werden müsse. Denn mit dem Urteil sei ein Verfahren mitnichten abgeschlossen. Die Kammer hat noch das schriftliche Urteil zu verfassen. Allein im sogenannten Osmanen-Prozess, bei dem es um einen Bandekrieg ging, waren 50 Verhandlungstage notwendig. Das schriftliche Urteil umfasst 419 Seiten.

Ist ein öffentlichkeitswirksames Verfahren abgeschlossen, steht schon das nächste vor der Tür. Am 11. September soll der Prozess gegen den 20 Jahre alten Mann beginnen, der im März dieses Jahres im Stuttgarter Norden mit einem gemieteten Jaguar einen tödlichen Unfall verschuldet haben soll. Der Mann soll mit mehr als 160 Stundenkilometer durch die Stadt gerast sein. Bei einem Ausweichmanöver kollidierte er mit einem anderen Wagen. Der 25-jährige Fahrer und dessen 22-jährige Lebensgefährtin überlebten den Aufprall nicht.

„Trouble in Paradise“

Die Staatsanwaltschaft hat Mordanklage gegen den Jaguar-Fahrer erhoben. Er soll das Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel verwirklicht haben. Derzeit sind Termine bis Mitte November dieses Jahres abgesprochen.

Weniger spektakulär, aber ähnlich öffentlichkeitswirksam wird der Prozess vor der 5. Strafkammer gegen den ehemaligen Rektor und den ehemaligen Kanzler der Verwaltungshochschule in Ludwigsburg werden. Den Angeschuldigten wird Untreue vorgeworfen. Das Verfahren soll am 8. Oktober beginnen.

Wegen der Gesamtbelastung des Landgerichts appelliert Präsident Andreas Singer an die Politik: „Ich kann nur dringend bitten, die Situation ernst zu nehmen.“

Was am Landgericht Stuttgart passiert, findet durchaus auch im Ausland Widerhall. Stichwort Paradise-Prozess, an dessen Ende am 27. Februar dieses Jahres unter anderem der Betreiber des Bordells auf den Fildern wegen Beihilfe zur Zuhälterei und zum Menschenhandel sowie wegen Betrugs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der britische „Guardian“ nahm die Story auf unter der Überschrift: „Trouble in Paradise“.