Christus predigt zu den Toten: Gemälde von Joakim Skovgaard (1856-1933). Foto: Imago/Heritage Images

Das Leiden Jesu am Kreuz und seine Auferstehung sind für Christen zwei Seiten desselben Heilsereignisses. Dazwischen liegt der Karsamstag, hinter dem sich ein düsteres, unergründliches Geheimnis verbirgt: Christi Gang zu den Toten. Ein Essay über Ostern und was davor geschah.

Was geschah zwischen Karfreitag und Ostern, nach der Kreuzigung und vor der Auferstehung Jesu Christi? In der Theologie der österlichen drei Tage (lateinisch: „Triduum Paschale“ oder „Triduum Sacrum“) ist der Karsamstag der Tag der Grabesruhe des Herrn.

Karsamstag: Trauer und Stille

Nach Christi Tod am Kreuz herrscht Trauer und Stille – in den Evangelien genauso wie in allen christlichen Kirchen im "Orbis terrarum" - im Erdkreis. Christus ist gestorben, um die Welt zu erlösen und durch seine freiwillige Hingabe in ein gewaltsames Sterben von Sünde, Tod und Verdammnis zu befreien.

Am Ostersonntag geschieht dann das größte aller Heilsmysterien: Jener, der den Tod durchlebte, steht von den Toten auf. Das Leben siegt über den Tod.

Christus steigt hinab ins Reich des Todes

Höllenfahrt Christi: Ikone im Stadtmuseum von Pskow in Russland. Foto: Imago/Insadco

In der traditionellen christlichen Glaubensvorstellung, wie sie in den ersten Jahrhunderten von den frühen Kirchenvätern formuliert wurde, ist Jesus nach seinem Kreuzestod in die Hölle – die Gehenna (hebräisch), den Hades (griechisch) – hinabgestiegen und hat dort die "Seelen der Gerechten seit Adam" befreit, so die frühkirchliche Überlieferung. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt es: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes.“

Doch was geschah dort in der tiefsten Verlorenheit, wo jene wohnen, die sich von Gott abgewandt haben und für immer verdammt sind? Die epochale Erfahrung des Gottesverlusts wird an Karsamstag mit einem Tag in Verbindung gebracht, an dem Gottes Sohn tot ist und Gott selbst schweigt.

Ostern bricht mit diesem Schweigen. Gott spricht wieder zu den Menschen. Die Ungewissheit nach dem Tode Jesu ist vorüber. Das Dunkel der Geschichte wird von hellstem Licht verdrängt. Die Welt feiert die Auferstehung des Erlösers und Heilands, der den Tod überwunden hat.

Höllenfahrt Christi – Legende oder Wahrheit?

Höllenfahrt Christi als Sieg über den Tod: Fresko in der orthodoxen Kirche von Chora in Istanbul. Foto: Imago/Imagebroker

Die Zeit dazwischen, Karsamstag, ist das große Rätsel im österlichen Geheimnis. Sie ist geprägt vom schmerzhaften Vermissen Gottes, seiner Gottferne. Die meisten heutigen Theologen schweigen über den Karsamstag. Wie könnte es auch anders sein in postaufklärerischer Zeit, in der die Theologie den Mythen und Legenden abgeschworen zu haben scheint.

Es war der evangelische Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976), der in seinem sogenannten Entmythologisierungsprogramm der traditionellen Karsamstag-Theologie (und mit ihr anderen "Mythen" des christlichen Glaubens) den Garaus gemacht hat. Der Höllenabstieg Jesu hat sich für ihn, zahlreiche Theologen nach ihm und viele Gläubige endgültig erledigt.

Theologie des Karsamstags

Abstieg Christi in die Unterwelt: Fresko in der Sankt-Nikolaus-Kirche im georgisch-orthodoxen Qinzwissi-Kloster in Georgien. Foto: Imago/GFC Collection

Umso bemerkenswerter ist es, dass die Höllenfahrt Christi nicht "tot" zu kriegen ist. Der Schweizer katholische Theologe Hans Urs von Balthasar (1905-1988) hat sich ihr wie kein anderer Glaubensdenker der Neuzeit gewidmet und sie wie eine verstaubte Reliquie dem Vergessen entrissen.

Auch Hans Urs von Balthasar hält den Höllenabstieg Christi für mythologisch. Es ist kein historisches Faktum, sondern eine Glaubens-Metapher. Allerdings bleibt von Balthasar nicht an der gängigen Kritik der Moderne im Gefolge der neuzeitlichen Religionskritik stehen, sondern denkt weiter und tiefer  - und fragt nach dem Sinn des Geheimnisses von Karsamstag.

Die frühe Kirche hat gerade im Höllenabstieg Christi den Grund für die Rettung der Toten gesehen. Von Balthasar greift diesen Gedanken auf und vertieft ihn zu einer Karsamstags-Theologie, wie sie in der neuzeitlichen Theologiegeschichte einmalig ist.

Die Hölle – ein innerer Zustand

Jesus wird ins Grab getragen: Zeichnung von Gustave Doré (um 1890). Foto: Imago/Granger Historical Picture Archive

Für von Balthasar und die gesamte Kirche ist die Höllenfahrt des Erlösers heilsrelevant. Dass heißt: Ohne sie wäre Ostern nicht zu verstehen. Dabei ist klar, dass die Hölle kein Ort ist, sondern ein innerer Zustand. Es ist die völlige Gott-Abwesenheit. Für die Toten in der Hölle ist Gott tatsächlich tot.

Indem Christus zu ihnen hinabsteigt, gibt es für sie wieder Hoffnung und Rettung. Jene, die auf ewig verloren sind, werden gerettet. Christus trägt Gottes unendliche Liebe selbst dorthin, wo ewige Finsternis und Verdammnis herrschen.

Die Freiheit und das Böse

Christus öffnet das Tor zur Hölle (Stich von Albrecht Dürer, 1510). Foto: Imago/Heritage Images

Mit der Erschaffung des Menschen hat Gott seinem Geschöpf auch die Freiheit geschenkt. Freiheit, sich gegen seinen Schöpfer zu wenden und in "sündhafter Verblendung" Gottes Erlösungsangebot auszuschlagen. Die Hölle ist gleichsam bevölkert von solchen, die "Nein" zu Gott gesagt haben und nun fern von ihm dahinvegetieren.

Gibt es für sie keine Erlösung mehr? Ist ihre Verlorenheit ewig? Diese Konsequenz liegt nahe. Und genau hier erhält der Karsamstag seine theologische Brisanz, macht er doch Ernst damit, dass Christus am Kreuz nicht nur die absolute Einsamkeit erfahren hat, sondern diese Einsamkeit auch zu jenen trägt, die einsam in der Hölle leben. Als Toter ist er den Toten gleich geworden und macht die Erfahrung der Hölle – als Erlöster unter Unerlösten.

Topografie des Jenseits: Gibt es die Hölle als Ort?

Dante Alighieri in der Hölle: Zeichnung von Gustave Doré (um 1890). Foto: Imago/Heritage Images

Es gibt für Hans Urs von Balthasar und die Kirche keine Topografie des Himmels, der Hölle und des Fegefeuers. Sie sind vielmehr Zustände der absoluten Nähe und Ferne Gottes. Mit Blick auf die Hölle bedeutet dies, dass sie als Situation des Gottesverlusts gedeutet wird. Ein Verlust, der nur durch Christus selbst wieder gut gemacht werden kann, indem er am Ort der Gottferne Gottes Nähe bringt.

Entscheidend für von Balthasar ist, dass sich mit Christi Gang zu den Toten die Wende bereits ereignet hat. Die österliche Auferstehung muss nicht heil machen, was vernichtet ward, sondern der Tod am Kreuz hat dieses Heilsgeschehen irreversibel – also unwiederbringlich – in Gang gesetzt. Das Geschehen begründet schließlich die Hoffnung, dass wir alle gerettet werden.

Der Tod als Weg zum Leben

Christus in der Unterwelt: Aus Martin Schongauers„Passion“ von 1480. Foto: Imago/Heritage Images

Der Karfreitag ist von der Auslieferung Jesu gekennzeichnet. An ihm wird der Sohn aus Liebe und zum Heil der Welt ausgeliefert und schließlich gekreuzigt. Er tut dies aus freien Stücken und bleibt doch der immer Handelnde. Der Tod Jesu bringt es mit sich, dass er wirklich tot ist. Nicht in einer Art "Zwischenzustand", sondern ein Toter unter den Toten.

Wie Christus im Leben solidarisch war, so ist er es auch im Tod. Im Karsamstag drückt sich diese "Erinnerungssolidarität" Jesu mit denen aus, die verdammt sind. Sein restloser Einsatz für das Leben schließt die Hingabe an den Tod mit ein. So wird der Tod von der Dynamik der absoluten Liebe bestimmt.

Die Kirche nimmt den Tod Jesu radikal ernst. Es ist keine Chiffre für ein symbolisches Tun. Jesus ist tot. Und durch seinen Tod teilt er dieses Schicksal mit den Kraftlosen. Er macht die Erfahrung der „Poena damni“ – der „sündigen Söhne Adams“ –, deren Stelle er stellvertretend auf sich nimmt, so wie er sie für die Lebenden am Kreuz auf sich nahm.

Christi Solidarität mit den Toten und Verdammten

Christus in der Hölle, Zeichnung von Sascha Schneider aus dem Jahr 1882. Foto: Imago/H.Tschanz-Hofmann

Christi Solidarität mit den Toten besteht nicht allein darin, dass er seinen Tod bejaht und am Kreuz stirbt, sondern dass er die Wirklichkeit des Todes persönlich und real durchlebt. „Christus ist bis in die abgründigsten Tiefen des Meeres hinabgestiegen, als er in die tiefste Hölle hinabfuhr, um die Seelen seiner Erwählten daraus zu befreien“, schreibt der Kirchenvater Gregor der Große (540-604). „Gott hat diesen Abgrund in einen Weg verwandelt.“

Es gibt keinen Abgrund mehr, in den der Mensch geraten könnte, ohne dass darin Christus nicht zu finden wäre. Christus ist überall und hat alle "wiedereingeholt", die schon verloren waren. „Reintegratio in Christo“ nennen dies die Kirchenväter: die "Wiedereinholung" der Welt der Lebenden und der Toten durch den gekreuzigten und auferstandenen Erlöser.

Gott ist in der Verlassenheit nahe

Der Gedanke, dass Jesus am Karsamstag im Grabe ruht, tot ist, hat bei aller Schrecklichkeit doch etwas Tröstliches: Christus ist uns in der Gottverlassenheit nahe, nicht erst im Tod, schon im Leben. In Augenblick der Verzweiflung, Angst, des Schmerzes, des Verlustes, der tiefsten Trauer und des Nicht-mehr-Weiter-Wissens ist er da.

Auch wenn wir seine Nähe nicht spüren, weil sich die dunkle Wolken über die Seele legen, ist er da. Christus teilt mit uns diese Erfahrung, weil er selbst sie erfahren hat. Er ist nicht nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch, der alle Mühen des Menschseins mit uns geteilt hat.

Die Konsequenz dieser Karsamstag-Theologie ist ungeheuerlich: Es gibt keine Gottesferne mehr – selbst nicht in selbst gewählter Gottverlassenheit. Der Mensch kann sich allein im Universum wähnen, doch Gott ist immer um ihn und ihn ihm.

Hoffen wider alle Hoffnung

Christus in der Hölle: Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren (1525-1569). Foto: Imago/United Archives International

Doch ist eine solche Hoffnung nicht wahnwitzig? Geht man damit nicht allzu leichtfertig über die "Gräber und Schlachtfelder der Geschichte" hinweg? Und was geschieht mit Massenmördern wie Adolf Hitler oder Josef Stalin, die wir doch auf ewig in der Hölle "schmoren" sehen möchten? Müssen die Täter nicht ihre gerechte Strafe finden?

Was ist mit der ausgleichenden Gerechtigkeit, die für den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) die eigentliche Begründung für eine Theodizee, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids in der Welt, ist.

Die Kirche hat diese Offenheit gegenüber jenen, die die Hölle mit all den Sündern der Menchheitsgeschichte bevölkert sehen wollen – die sogenannten Infernalisten –, immer verteidigt. Was wäre, wenn nicht Gott, sondern der Mensch die Deutungshoheit für das Geschehen nach dem Tod hätte? Dann wäre die Verdammnis die Strafe für alles Böse in der Welt. Doch das ist eine individualistische Verkürzung, in der man sich nur um das eigene Seelenheil kümmert – und vielleicht noch um das der Gerechten und Guten.

Radikalität der Liebe

Frühes religiöses Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, das den Tag des Jüngsten Gerichts darstellt - "Wenhaston Doom" - im englischen Suffolk, Foto: Imago/Imagebroker

Die Solidarität Christi mit den Toten beinhaltet indes noch eine ganz andere Radikalität: die der Liebe, die so unendlich groß ist, dass sie alles – auch das abgrundtiefe Böse – zu verwandeln vermag. Nur weil wir Menschen dieses Geheimnis nicht verstehen, weil es unseren Denk- und Wertehorizont übersteigt, bedeutet dies nicht, dass es nicht wahr ist.

Niemand, kein Papst, kein Christ, kein Mensch ist befugt, Gottes Barmherzigkeit geringer zu veranschlagen als seine Gerechtigkeit. In beidem ist es die absolute Liebe, die handelt und vergibt. Kein Tod kann das Leben in seinen Klauen gefangen halten. Das ist die Trost spendende Botschaft der österlichen drei Tage und von Karsamstag.

„Von den Toten auferweckt“

Auferstehung Christi, Detail aus dem Altarbild des Grünewaldaltars im Museum Unterlinden in Colmar (Frankreich). Foto: Imago/Imagebroker

„Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist euer Glaube nichtig, dann seid ihr noch in euren Sünden, also sind auch die in Christus Entschlafenen verloren“, heißt es im Neuen Testament der Bibel (1. Korintherbrief, Kapitel 15, Verse 117-121). Und weiter: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden, als Erstling derer, die entschlafen sind. Da nämlich durch einen Menschen der Tod kam, kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten.“