Die Deutschen zählen nicht mehr zu den absoluten Topfavoriten, dennoch hat die Tournee nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt. Foto: dpa

Kaum einer ist mit der Vierschanzentournee mehr vertraut als Martin Schmitt: 18 Mal nahm der Schwarzwälder teil, dem Gesamtsieg jagte er stets vergebens hinterher. Mittlerweile ist er Manager von Severin Freund – und rät dem Ex-Kollegen in unserem Interview: „Man muss sich Normalität bewahren.“

- Herr Schmitt, haben Sie sich fast zwei Jahre nach Ihrem Rücktritt als Skispringer schon daran gewöhnt, die Weihnachtszeit genießen zu können?
Ja, auf jeden Fall, wobei ich auch sagen muss, dass mir das Verzichten an Weihnachten meist gar nicht so schwer gefallen ist. Aber klar, als aktiver Skispringer gibt es da schon gewisse Einschränkungen.
An Weihnachten wegen der bevorstehenden Vierschanzentournee – die über viele Jahre fest zu Ihrem Lebensrhythmus gehörte.
Genau. deshalb wäre es für mich jetzt auch ein ungewöhnliches Gefühl, hätte ich gar nichts mehr mit der Tournee zu tun. Oder wenn ich mich womöglich mit der Frage beschäftigen müsste: Was mache ich an Silvester? So aber bin ich voller Vorfreude auf die Tournee.
Bedeutet: Sie sind nach wie vor nah dran an Ihrem Sport und werden bei den Tournee-Stationen zu Gast sein?
Ich bin ja für den TV-Sender Eurosport tätig, daher werde ich auch in diesem Jahr die Tournee begleiten.
Werden Sie da mittlerweile auch mal gefragt, warum Sie aufgehört haben? Früher musste Sie sich ja immer rechtfertigen, warum Sie weiter springen.
(Lacht) Ich muss mich nicht allzu oft rechtfertigen für mein Karriereende. Und wenn, dann kommen die Fragen mit einem Augenzwinkern – und natürlich mit dem Hinweis auf Noriaki Kasai. Der ist 43 und derzeit wieder in guter Form, deshalb sagt dann schon mal jemand: Na, doch zu früh aufgehört?
Und was antworten Sie dann?
Dass es in dem 38-jährigen Finnen Janne Ahonen auch das Gegenbeispiel gibt.
Also sind Sie nach wie vor zufrieden mit dem Entschluss, die Karriere vor rund zwei Jahren beendet zu haben.
Ja, das würde ich schon sagen.
Wie verbringen Sie Ihre Zeit neben dem TV-Engagement? Haben Sie womöglich Langeweile ganz ohne Springen und Trainieren?
(Lacht) Im Gegenteil, ich bin sogar froh darüber, wenn es demnächst wieder ein bisschen ruhiger wird.
Also sind Sie ein viel beschäftigter Mann – auf welchen Feldern?
Ich habe in Köln das Diplom-Trainer-Studium absolviert und im Oktober abgeschlossen, an der Uni Leipzig mache ich nun einen Aufbaustudium in Sportwissenschaft, das ich im Wintersemester abschließen möchte. Parallel nehme ich in Düsseldorf an einem Weiterbildungsprogramm im Bereich Sportmanagement teil. Und gemeinsam mit meinem langjährigen Manager Hubert Schiffmann und Simon Ammann habe ich eine Sportmarketing-Agentur gegründet, unser Schwerpunkt liegt dabei im Bereich Athletenmanagement.
Welche Sportler haben Sie unter Vertrag?
Wir haben derzeit neun Sportler unter Vertrag, aus dem Bereich Skispringen sind es Severin Freund und natürlich Simon Ammann, der ja auch Gesellschafter ist.
Also zwei Skispringer, die zu den großen Protagonisten der diesjährigen Vierschanzentournee werden können. Severin Freund gilt schon seit Jahren als Anwärter auf den Gesamtsieg. Warum hat es bisher nicht geklappt?
Schwierige Frage. Bei der Tournee brauchst du eben auch das Glück, zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Sprung zu machen. Nur dann kann man diese Euphorie entwickeln und einen richtigen Lauf bekommen. Andererseits gilt: Wenn es gleich am Anfang in Oberstdorf ein bisschen hakt, dann wird es schwer.
Severin Freund . . .
. . . hatte vor und nach der Tournee zuletzt oft die absolute Topform – aber eben nicht genau dann, wenn man sie braucht, um den Gesamtsieg holen zu können. So etwas hat aber selten den einen und einzigen Grund. Mal ist es das Material, mal findet man nicht zu seiner Technik, mal ist man körperlich nicht ganz auf der Höhe – das alles kann man analysieren, dennoch gibt es keine Garantie, dass man es im Jahr darauf besser macht. Die Tournee ist da wie eine Weltmeisterschaft oder Olympische Spiele.
Inwiefern?
Man kann nichts erzwingen. Wichtig ist daher erst mal nur, dass man gute Voraussetzungen schafft. Nur dann kann man mit einer gewissen Lockerheit rangehen.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre könnten helfen.
Einerseits ja. Andererseits ist es ja auch so, dass gerade Severin jetzt schon einige Male nah dran war, eine gute Rolle zu spielen. Dann hatte er bei der Tournee aber kaum Erfolgserlebnisse. Diese Erfahrungen auszublenden ist auch nicht ganz leicht.
Da hilft es sicher, dass er einer ist, der eher rational an die Sache rangeht.
Ich denke tatsächlich, dass er sich auf diese Situation ganz gut einstellen kann. Er muss einfach Geduld haben.
Sie kennen Severin Freund noch als langjährigen Kollegen. Was hat ihn denn zu dem gemacht, der er jetzt ist: Team-Olympiasieger, Weltmeister, Gesamtweltcupsieger . . .?
Es war Severins Weg, einerseits kleine Schritte zu gehen, sich dabei aber keine Limits zu setzen. Auf diesem Weg ist er nach wie vor – und es ist beeindruckend, wie er sich seit 2010 entwickelt hat. Er hat sich vor einigen Jahren sehr schnell und gut auf das neue Bindungssystem eingestellt und sich auch danach in allen Teilbereichen weiter verbessert, er hat seinen kompletten Sprung optimiert. Absprung und Flugsystem passen, es ist ähnlich wie beim Slowenen Peter Prevc.
Diese beiden . . .
. . . sind für mich derzeit die besten Skispringer.
Demnach kommt es zum Zweikampf um den Gesamtsieg.
Da darf man gespannt sein. Auch darauf, ob es dann doch wieder eine Überraschung gibt. Es wird sicher wieder ein Dritter dazukommen, der um den Sieg mitspringt. Der Norweger Kenneth Gangnes zum Beispiel macht einen starken Eindruck – und die Tourneeschanzen müssten ihm liegen.
Die Generalprobe verlief ganz unterschiedlich: Prevc siegte zweimal, Freund wurde nur Achter und Sechster.
Da sagt man nach Platz Acht und Sechs schon „nur“. Aber es stimmt schon: Wenn man sein Niveau hat und dann zweimal nicht auf dem Podest steht, dann ist es schon nicht ganz einfach. Aber vielleicht ist es auch ganz gut, dass die eigenen Erwartungen hinsichtlich der Tournee dadurch nicht ganz so hoch sind.
Was macht es denn generell so schwierig, mit der Ausnahmesituation Vierschanzentournee umzugehen?
(Lacht) Dass jeder von einer Ausnahmesituation redet. Man versucht dann erst recht, alles richtig zu machen – und schon bekommt die Tournee eine ganz besondere Bedeutung.
Wie wirkt man dem entgegen?
Nun, man muss sich auf dieses Spezielle einfach einlassen. Die Tournee ist kein gewöhnliches Weltcupspringen, das muss man annehmen. Trotzdem darf die Freude am Skispringen nicht zu kurz kommen.
Das deutsche Team hat viel ausprobiert: Rein in den Trubel, lieber außerhalb wohnen, Pressekonferenzen geben, sich abschotten – was ist das richtige Maß dabei?
Die Kunst ist es, einen Mittelweg zu finden. Sich komplett zurückziehen, das geht nicht, denn da entwickelt man sehr schnell eine Abneigung gegen all das, was halt dazugehört bei der Tournee. Man sieht Störfaktoren, die gar keine sind.
Bedeutet im Umkehrschluss?
Dass man sich eine gewisse Normalität und Natürlichkeit bewahren muss. Auf der anderen Seite ist es sehr wichtig, dass man seine Regenerationszeiten hat, dass man abschalten und mit den Kräften haushalten kann.
Kann einen die Tournee im Laufe einer Karriere schaffen, weil man dem Gesamtsieg vergeblich hinterherrennt? Simon Ammann ist aktuell so ein Beispiel.
Definitiv. Den einen geht es mit der Tournee so, den anderen mit einem Olympiasieg. Solche Dinge bringt der Sport einfach mit sich. Das Problem an der Tournee ist es: Du kannst in Topform sein, sie wegen eines kleinen Fehlers auf einer der vier Schanzen aber noch verlieren. Und natürlich wird es einfacher, wenn man die Tournee schon mal gewonnen hat, als wenn man diesem Erfolg seit Jahren hinterherrennt.
Man kann an ihr verzweifeln?
Verzweifeln nicht. Als Sportler kann man so etwas abhaken und eine neue Chance suchen. Aber es kann passieren, dass die Lockerheit verloren geht und man bei den Tourneespringen verkrampft, dass einen Kleinigkeiten plötzlich viel mehr aus dem Konzept bringen.
Und dann wittern die Überraschungssieger ihre Chance.
Genau. Manch ein Favorit macht sich womöglich den einen Gedanken zuviel – und die unbekümmerten Außenseiter schlagen zu. Das ist das Phänomen Tournee.