Nicht nur die Pianistin Karin­ (Olivia Ross) wird für den Nachwuchsphysiker Johannes Leinert (Jan Bülow) zum Rätsel. Foto: Neue Visionen

In dem Science-Fiction-Mystery-Thriller „Die Theorie von Allem“ stößt ein junger Physiker in unheimliche Parallelwelten vor, während der Filmemacher Timm Kröger einen Berg unbewältigter deutscher Filmgeschichte besteigt.

Woran soll man noch glauben, wenn man gesehen hat, wie die Welt zerspringt, als wäre sie eine gläserne Christbaumkugel? Nach zwei Kriegen und dem Chaos dazwischen ist die Fixierung des Wissenschaftlers Dr. Julius Strathen (Hanns Zischler) auf die Physik mit ihren angeblich unumstößlichen Gewissheiten vielleicht bloß ein Akt der Verzweiflung. Für den Doktoranden Johannes Leinert (Jan Bülow) ist die Dogmatik seines Mentors jedoch eine Qual, weil Leinert an einer eigenen Interpretation der Quantenmechanik experimentiert, was Strathen arrogant abwürgt.

In der Hoffnung, Leinert auf Spur zu bringen, macht sich Strathen mit seinem Schüler im Jahr 1962 zu einem Kongress in die Schweizer Alpen auf. Doch der von der Fachwelt erwartete iranische Kollege erscheint dort nicht, um seinen wegweisenden Vortrag ausgerechnet über Leinerts Fachgebiet zu halten. Stattdessen fahren die angereisten Koryphäen Ski, unter ihnen Strathens Widersacher Professor Blumberg (Gottfried Breitfuss); ein Trinker und Schürzenjäger, der Leinert ermuntert, seine Interessen gegen Strathens Lehrmeinung durchzusetzen.

Der Hotelpage zeigt noch den Hitlergruß

Es ist ein kurioses Personal, das der Filmemacher Timm Kröger in seinem Science-Fiction-Mystery-Thriller „Die Theorie von Allem“ vor gewaltiger Bergkulisse versammelt in einem so mondänen wie morbiden Grand Hotel – als hätten Thomas Mann und Friedrich Dürrenmatt gemeinsam das Drehbuch verfasst. Wie Gespenster einer vergangenen Ära gehen die alten Physiker in den Sälen und Suiten um, der Hotelpage zeigt noch den Hitlergruß.

Leinert versucht, zwischen diesen Untoten einen klaren Kopf zu bekommen, doch er verliebt sich in die junge Pianistin Karin (Olivia Ross), die unerklärlich viel aus seiner Kindheit weiß und plötzlich wieder verschwindet. Zudem häufen sich unter seltsamen Wolkenerscheinungen noch seltsamere Todesfälle, untersucht von den unheimlichen Kommissaren Amrein (Philippe Graber) und Arnold (David Bennent).

Leinert wird bald von wirren Träumen heimgesucht und sieht, wie Totgeglaubte mit zuvor zermatschtem Schädel plötzlich wieder heil und munter durch das Dorf spazieren. Eine radioaktive Höhle spielt in diesem Rätsel eine wichtige Rolle – und neben dem manifesten Gebirge der Schweizer Alpen ein immaterieller Berg an unbewältigter deutscher Vergangenheit.

Das klingt nach einer Menge Stoff, dabei ist der Plot selbst überschaubar, scheint teilweise auf der Stelle zu treten wie Johannes’ Berechnung seiner Wellenfunktion. Wer Action und handfeste Lösungen sucht im Kino, mag das monieren. Vielschichtig und spannend ist Krögers Erzählung trotzdem wegen der komplexen Subtexte und atemberaubenden Ästhetik.

Der Film ist so gruselig wie großartig

Das Thema der Multiversen, dem Johannes mit seinen Formeln auf die Spur zu kommen versucht, ist gerade in Mode. In der Kritik wird Krögers Film häufig mit den fantastischen Universen der Marvel-Superhelden in Verbindung gebracht, die nicht nur von Parallelwelten erzählen, sondern selbst als solche für ein Publikum funktionieren, das gegenwärtigen Problemen zumindest im Kino zu entkommen versucht. „Die Theorie von Allem“ bietet dagegen keinen bunten Eskapismus. In wuchtigen Schwarz-Weiß-Bildern lässt Kröger das Pathos deutscher Bergfilme der 1920er Jahre von Arnold Fanck und Luis Trenker auferstehen, während die Filmmusik von Diego Ramos so klingt, als habe er Alfred Hitchcocks Stammkomponisten Bernard Herrmann für eine gemeinsame Studio-Session exhumiert.

Das Ergebnis ist so gruselig wie großartig, weil Kröger sich nicht mit der Aneinanderreihung filmhistorischer Zitate und Anspielungen begnügt, sondern die Versatzstücke zu einer eigenen Atmosphäre, einem eigenen Stil verknüpft. Film Noir und Paranoia, düstere Romantik und deutsche Straßenfeger der 60er, Wissenschaft und Fiebertraum: Wie Kröger daraus seine individuelle Vorstellung von deutscher Science Fiction entwickelt, ist außergewöhnlich. So bekommt man einen Eindruck davon, wie die in der Weimarer Republik blühende deutsche Filmproduktion sich bis heute in verschiedenen Genres hätte weiter entwickeln können – hätten die Nazis nicht die jüdischen Filmschaffenden ermordet oder vertrieben, ihre Kunst durch Kitsch und Propaganda ersetzt und die Entwicklung auch im Hinblick auf internationalen Austausch gewaltsam unterbrochen.

Während Johannes im Film erlebt, wie Zeit und Raum zu unzuverlässigen Größen werden und verschiedene Versionen ein und derselben Geschichte nebeneinander existieren, führt Kröger sein eigenes filmisches Paralleluniversum vor. Eine spannende Frage, welche anderen Versionen der Wirklichkeit Kröger zukünftig im Gestern noch entdecken wird.

Die Theorie von Allem. D/A/CH 2023. Regie: Timm Kröger. Mit Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler. 118 Minuten. Ab 6 Jahren.

Der Filmemacher und sein Werk

Bergsteiger
 Timm Kröger, Jahrgang 1985, ist Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg. Schon sein Abschlussfilm „Zerrumpelt Herz“ über das Verschwinden eines Komponisten im Jahr 1929 wurde 2014 zu den Filmfestspielen von Venedig eingeladen. „Die Theorie von Allem“ ist Krögers zweite Arbeit als Regisseur und Drehbuchautor. 2023 konkurrierte der Film in Venedig im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Kröger arbeitet auch als Kameramann und Produzent.

Zitate
 „Die Theorie von Allem“ ist gespickt mit visuellen Verweisen, der Film ist aber auch wegen seiner starken Besetzung interessant. David Bennent zum Beispiel wurde 1979 in Volker Schlöndorffs Roman-Adaption „Die Blechtrommel“ schlagartig bekannt: Als Oskar Matzerath trommelte er damals gegen bürgerliche Scheinheiligkeit und das Nazi-Regime an.