Herta Müller 2014 auf der Frankfurter Buchmesse Foto: dpa-Zentralbild

Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat im Hospitalhof in Stuttgart über Mehrdeutigkeit diskutiert.

Stuttgart - Sich mit dem Problem der Mehrdeutigkeit zu beschäftigen, bedarf in Zeiten, in denen Gewissheiten flüchtiger denn je sind, eigentlich keiner Rechtfertigung. Trotzdem kann man am Freitagabend im Stuttgarter Hospitalhof erleben, wie noch so gut gemeinte akademische Fragestellungen von der Ausdruckskraft des Lebens und der Literatur überwältigt werden.

Auf der einen Seite des Podiums sitzt die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, auf der anderen die Literaturkritikerin Insa Wilke. Beide unterhalten sich zum Abschluss und Höhepunkt eines Workshops über das, was der etwas sperrige Titel „Ambiguität: Produktion und Rezeption“ verheißt. Dahinter verbirgt sich die geballte wissenschaftliche Verklausulierungsmacht eines Graduiertenkollegs der Universität Tübingen, das im Literaturhaus getagt hat.

Womit man schon bei den Mehrdeutigkeiten angelangt wäre, für die der Vogel Fasan in den unterschiedlichen Sprachen stehen kann: Im Deutschen nämlich, so erläutert die 1953 in Rumänien geborene und seit 1987 in Berlin lebende Autorin, stehe der Fasan für einen eitlen, auch mit Worten prahlenden Hochstapler, im Rumänischen dagegen verbinde man mit dem des Fliegens kaum mächtigen Tier eher einen sympathischen Verlierer, der sein Leben nicht im Griff habe.

Mehrdeutigkeit als Fluch

Und weil Herta Müller kein Hehl daraus macht, welcher Fasan ihr der liebere sei, ist an diesem Abend immer wieder zu erleben, wie die stolzen Theoreme, die Insa Wilke von den Tübinger Gelehrten zugespielt worden waren, von den schreib- und lebenspraktischen Ausführungen der Autorin kurzerhand verscheucht werden, allen voran der Begriff der Mehrdeutigkeit selbst. Der Freude an der Offenheit, am Schillern von Bedeutungen, setzt sie ihre Erfahrungen in einer Diktatur entgegen. Wer einmal die Schikanen von Verhören durchlaufen habe, wisse, dass Mehrdeutigkeit auch ein Fluch sein kann.

Nun kann man durchaus darauf kommen, dass Herta Müller mit ihrem 2012 erschienenen Collagenband „Vater telefoniert mit den Fliegen“ Anschauungsunterricht zum Thema erteilen könnte. Denn bei diesem Werk handelt es sich um eine eigentümliche Bastelarbeit aus Wortschnipseln jedweder Couleur. Sie fügen sich zu so befremdlichen wie zwingenden Satzgirlanden, die ein unheimliches Gärtchen der Vieldeutigkeit zu schmücken scheinen. „In der Werkstatt des Apfels wird ein zentrales Gehäuse / in der Werkstatt der Dahlie eine Nabelspirale / in der Werkstatt der Fliege die Musik der schreckdünnen Haut / in der Werkstatt der Lippen wird ein Schnee nach dem anderen gegen die Kohle im Heimweh gebaut“ – so eine der ursprünglich aus der Idee von Postkarten entwickelten Textbotschaften.

Vom Eigenleben der „schlauen Wörter“

Doch je mehr Einblick Müller in ihre mit Schere und Leim bestückte eigene Textwerkstatt gewährt, desto deutlicher wird, wie wenig diese Arbeiten mit den munteren Sinnverschleifungen des Dadaismus oder Surrealismus gemein haben. Jedes Wort sei ein Unikat, sagt Müller – eines freilich, das seine Einmaligkeit erst im Zusammenhang eines Satzes entfalte. Und wenn sie davon erzählt, wie die „schlauen Wörter“ ein Eigenleben gewinnen, sich in eine Ordnung bringen lassen oder gegen sie aufbegehren, dann spürt man das intime Band, das hier Leben und Sprache verknüpft – „klar wie ein Messer“, wie es in einer der Sentenzen heißt.

„Mir ist in meinem Leben genug zerbrochen, nun will ich zusammenfügen“, sagt die Literaturnobelpreisträgerin von 2009 über ihre Collage-Technik, „man erträgt das Geschehen im Kopf besser, wenn man etwas mit den Händen macht.“ Das Wesentliche über Welt im Postkartenformat mitteilbar zu machen, verdankt sich der Kunst der Verkürzung. Auch hier kommuniziert der Schreibraum mit dem Erfahrungsraum. In Osteuropa sei die Sprache direkter, stärker auf das absolut Notwenige konzentriert: „Je größer das Gefühl, desto kürzer der Satz.“ Was man sagt, mit dem zu identifizieren, was man tut, ist für Müller eine Folge des wachsameren, kontrollierteren Lebens unter Diktaturen: „In solchen Regimen blüht die Lyrik, davon können die Russen ein Lied singen.“

Welche entsetzlichen Prägekräfte von Gewalt, Hunger und Tod den Worten ihre unauslöschliche Nennkraft verleihen, demonstriert sie mit der Lesung des Kapitels „Vom Hungerengel“ aus ihrem Roman „Atemschaukel“, der auf den Lagererfahrungen des Dichters Oskar Pastior basiert. Weiter kann man sich von den lustvollen Mehrdeutigkeiten einer fröhlichen Wissenschaft kaum fortbewegen.