Geflüchtete haben oft Traumatisches erlebt, bevor sie an den hiesigen Berufsschulen eintreffen. Foto: dpa//Wolfram Kast)

Bis Geflüchtete einen Abschluss haben, vergehen häufig viele Jahre. Dabei ist der Andrang ohnehin schon groß. Der geschäftsführende Schulleiter im Landkreis Ludwigsburg, Oliver Schmider, schildert eindringlich die Lage.

Die Berufsschulen tragen eine der Hauptlasten der Integration, sagt Oliver Schmider, geschäftsführender Schulleiter der Berufsschulen des Landkreises Ludwigsburg. Was das im Alltag bedeutet, erläutert der Rektor der Erich-Bracher-Schule in Kornwestheim-Pattonville.

Herr Schmider, vor allem die ohnehin schon vollen Gymnasien klagen, dass sie kaum noch zurande kommen, weil sie nun auch wegen des Kriegs in der Ukraine zusätzlich viele Geflüchtete aufnehmen müssen. Können Sie sich in der Hinsicht beruhigt zurücklehnen?

Ganz im Gegenteil. Wir tragen in unseren sechs Berufsschulzentren im Landkreis mit insgesamt rund 10 000 Schülerinnen und Schülern eine Hauptlast der Integration. Bei uns laufen im Prinzip alle Jugendlichen ab 16 Jahren auf, die irgendwo im Landkreis ein Dach über dem Kopf gefunden haben. Pro Monat landen 40 bis 50 Anmeldungen auf unseren Schreibtischen. Dann organisieren wir die Beschulung und brauchen auch die Unterstützung der Gymnasien. Das ist eine gewaltige Herausforderung.

Was macht Ihre Arbeit so schwer?

Alle sprechen gerade von den ukrainischen Geflüchteten. Aber bei uns treffen auch wieder vermehrt Heranwachsende aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan ein. Manche der jungen Frauen oder Männer, gerade aus Afghanistan, haben noch nie eine Schule von innen gesehen und sind Analphabeten. Wir müssen also mit Bildern und Karten anfangen, um erste deutsche Sprachkenntnisse zu erwerben.

Und die Öffentlichkeit denkt: wunderbar, die Jugendlichen besuchen eine Berufsschule und können nach drei Jahren eine Arbeit aufnehmen . . .

Dieses Bild entspricht leider nicht der Realität. Das ist ein langwieriger Prozess, der fünf bis sechs Jahre dauern kann. Zunächst kommen die Mädchen und Jungs in so genannte VABO-Klassen (Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen). Erst wenn die Basis gelegt ist, folgt die Integration in die Regelklassen. In diesen Klassen werden aktuell 187 Jugendliche gefördert. Die Zahl steigt und steigt. Im September hatten wir neun solcher Klassen, jetzt sind es schon zwölf. Je nach Bedarf werden demnächst ein bis zwei hinzukommen.

Woher nehmen Sie die Lehrer?

Das ist ein Kapitel für sich. Ich möchte hier mal eine Lanze für alle Kolleginnen und Kollegen an unseren sechs beruflichen Schulen brechen, die sich seit Jahren sehr flexibel zeigen und sich fortgebildet haben, um in den VABO-Klassen Deutsch als Fremdsprache unterrichten zu können. Aber der Lehrermangel trifft natürlich auch uns, die Kapazitäten sind begrenzt. Wenn mehr VABO-Klassen entstehen, müssen wir die Stunden dafür teilweise anderswo kappen.

Und wo?

Das trifft dann Bereiche, über die kein Pflichtstoff abgedeckt wird. Zum Beispiel wird Unterricht bei der individuellen Förderung gestrichen, was natürlich bitter ist. Denn es trifft ausgerechnet die ohnehin schon schwächeren Schüler.

Das muss Sie doch zornig machen?

Ganz ehrlich: Ich halte nichts davon, jetzt auf den Staat einzuprügeln und mehr Lehrer zu fordern. Der Markt ist schlicht leer gefegt, und ich habe auch kein Patentrezept in der Tasche, wie daran etwas geändert werden könnte. Zumal wir ja kurzfristig Bedarf hätten, uns folglich so etwas wie eine Ausbildungsoffensive ad hoc nicht helfen würde. Wünschen würde ich mir aber selbstverständlich Konzepte, die langfristig fruchten.

Apropos langfristig: Könnten die vielen Geflüchteten an den Berufsschulen perspektivisch nicht auch eine Chance sein und den Arbeitsmarkt beleben?

Klar sehe ich die Chance. Man darf sich aber keinen Illusionen hingeben. Bei etlichen Jugendlichen aus anderen Ländern stehen jene Berufe, bei denen in Deutschland der Nachwuchs fehlt, auch nicht sonderlich hoch im Kurs. Es ist zum Beispiel schwierig, junge Leute für das Bäckerhandwerk zu begeistern.

Zuletzt war zu hören, einzelne Kinder, speziell aus dem Kriegsland Ukraine, ließen sich schwer in den Klassenverband integrieren, störten die anderen Schüler. Haben Sie solche Erfahrungen auch gemacht?

Wir haben eher die Erfahrung gemacht, dass die Heranwachsenden von ihrer Flucht traumatisiert sind, weil sie dabei Familie und Freunde verloren haben. Einige wurden auch stellenweise in Gefängnisse gesperrt.

Damit müssen Lehrer erst einmal umgehen können.

Absolut. Das alles ist ein Problem, das sich zuspitzt. Ich hoffe, die Politik nimmt noch stärker in den Fokus, dass neben der Unterbringung der Geflüchteten insbesondere Antworten gefunden werden müssen, wie wir die ganzen Kinder und Jugendlichen erfolgreich in den Schulalltag integrieren, ohne unsere Schulen zu überlasten.

Verantwortlich für Berufsschulen

Leitung
 Oliver Schmider ist seit 2022 geschäftsführender Schulleiter der Beruflichen Schulen des Landkreises Ludwigsburg. Der 51-Jährige wohnt in Asperg, hat nach dem Abitur Wirtschaftspädagogik studiert.

Stationen
Fünf Jahre lang war Schmider selbstständig. 2001 machte er ein Referendariat, war später beim Regierungspräsidium Stuttgart beschäftigt und leitet seit 2018 die Erich-Bracher-Schule in Kornwestheim-Pattonville.