Bei einer Reise nach Nowosibirsk ins größte Opernhaus Russlands trafen wir den Dirigenten Teodor Currentzis, der viel von sich reden macht und bald in Baden-Baden auftritt.

Nowosibirsk - Auch an der Sollbruchstelle zwischen Europa und Asien, zwischen den Nachwehen des Sozialismus und dem westlichen Kapitalismus, pflegt man die künstlichste und kunstvollste aller Künste; die Oper. Wir reisten nach Sibirien und trafen den Dirigenten Teodor Currentzis, der viel von sich reden macht und bald in Baden-Baden auftritt.

Es gibt Unterschiede. Bei minus 35 Grad ginge in Deutschland kaum ein Mensch vor die Haustür; man würde stöhnen über die Unbill des Wetters. In Nowosibirsk, der mit gut 1,5 Millionen Einwohnern drittgrößten russischen Stadt nach Moskau und St. Petersburg, sitzt der Intendant von Russlands größtem Opernhaus (1700 Plätze) an seinem großen, dunklen, aufgeräumten Holzschreibtisch, lächelt, richtet das Foto, das Vladimir Putin bei seinem Besuch nach der Renovierung des Hauses zeigt, exakt so aus, dass es jeder Besucher gut sehen kann, und freut sich: Draußen sei es wie bei Puschkin - "Frost, Sonne, ein toller Tag".

So zumindest fasst die junge Übersetzerin Elena Ruslan Efremows russische Worte ins Englische. Ihre Kollegin Tatjana ist auch dabei. Ob sie, fragt man sich, dem Chef hinterher all das berichtet, was Elena vergessen oder falsch gemacht hat? Ähnliche Fragen stellt man sich auch anderorts: im Opernhaus, wo auf zahlreichen Positionen das Prinzip der kontrollierenden Doppelung gepflegt wird, aber auch im Hotel, wo ein Portier den anderen zu überwachen scheint. Oder im denkwürdigen sibirischen Heimatmuseum, in dessen 60er-Jahre-Muff viele Frauen in selbst gestrickten Acrylpullovern daumendrehend an Tischen sitzen, ohne dass man genau wüsste, warum. Die Räume, in denen man ihnen begegnet, sehen oft so aus, als hätte die Bühnenbildnerin Anna Viebrock sie um diese merkwürdig gestrigen, verlorenen Figuren herumgebaut - überall stehen diese grauen Multifunktions- und Zweckbauten, die ihre besten Tage schon lange hinter sich haben.

Doch nun hat Ruslan Efremow zum Gespräch geladen. Er will den deutschen Journalisten, die eine Entfernung von 5000 Kilometer Luftlinie hinter sich brachten, um in Sibirien der genuin europäischen Kunstform der Oper zu begegnen, sein Haus vorstellen. Die Art und Weise, in der Efremow dies tut, erinnert an Pressekonferenzen des Mannes, dessen Konterfei seinen Schreibtisch ziert: Die Geladenen hören einen langen Vortrag, in dem vieles sicherheitshalber mehrfach gesagt wird. Präzise Nachfragen werden gerne mit Floskeln wie "Das kann ich Ihnen (jetzt noch) nicht sagen" beantwortet; dann heißt's "Vielen Dank für das interessante Gespräch", und auf geht's zum Lunch.

Zwischendurch konnte nur häufiges Handyklingeln den Monolog des Meisters kurzzeitig unterbrechen. Der Intendant hat kurz Dinge in sein Mobiltelefon gemurmelt, die irgendwie wichtig klingen. Die Lust an der Show, merkt man immer wieder, verkneift man sich auch in Sibirien nicht. Und manches am Zusammenwirken der Oper, die so oft als "unmögliche" Kunstform bezeichnet wurde, mit in dieser Region, in der das Leben fast unmöglich zu sein scheint, hat etwas von einer Inszenierung.

Ob also vielleicht eine der beiden Sekretärinnen, die im Vorzimmer des Intendanten vor verdächtig leeren Schreibtischen sitzen, mitgespielt und angerufen hat? Man wird es nie erfahren - und vieles andere auch nicht. Auch beim Vortrag des Intendanten muss man sich mit dem begnügen, was dieser offiziell verkündet. Das "Theater für Oper und Ballett", wie das Opernhaus von Nowosibirsk offiziell heißt, hört man etwa, unterhält eigene Opern- und Ballettschulen und kooperiert mit dem Konservatorium der Stadt. Das Budget des Hauses beträgt nur ein Zehntel des Etats vom Bolschoi-Theater in Moskau. Und während dort wie auch im Mariinsky Theater von St. Petersburg 2500 Mitarbeiter beschäftigt sind, beschränkt man sich in Nowosibirsk auf 700, darunter 40 Solisten im Ensemble, 100 Tänzer im Ballett und 130 Orchestermusiker. Dennoch hält man hier nach Moskau den zweiten Platz unter den russischen Opernhäusern bei der Zahl der Vorstellungen - 240 sind es im Jahr. Allerdings, sagt Efremov und holt stolz ein Exemplar der höchsten russischen Theater-Auszeichnung, eine Goldene Maske, aus dem Vitrinenschrank - gehe es in seinem Haus "nie nur um Quantität, sondern immer vor allem um hohe Qualität". Mit 15 Goldenen Masken wurde das Opernhaus von Nowosibirsk schon ausgezeichnet. Die günstigste Eintrittskarte ist für zwei Euro zu haben, die teuerste kostet 180 Euro - "aber nur, wenn Stars hier auftreten".

2001 machte man Ruslan Efremow vom Bezirksgouverneur zum Intendanten. 2005 hat er ("Man braucht in Russland gute Beziehungen, dann funktioniert alles") die Generalsanierung des 1945 eröffneten Hauses durchgeboxt. Jetzt glänzen wieder die Deckenverzierungen in den weitläufigen Foyers; im logenfreien Amphitheater des Zuschauerraums, dessen Galerie von antikisierenden Statuetten gesäumt wird, sieht und hört man überall gut, und die weit gespannte Kuppel darüber, behauptet der Intendant, sei ohnehin einzigartig. Vom originalen Entwurf zeugen noch die breiten Tore an der Bühne, die eine Durchfahrt auch von Panzern möglich machen sollten - zu Beginn des Zweiten Weltkrieges plante man, in dem Gebäude das evakuierte Moskauer Parlament aufzunehmen. Freundlichere Relikte des Vergangenen sind die Durchreiche für Schneeboots an der Garderobe und das kleine Schuh-Umkleidekabinett mit rotem Samtvorhang daneben.

"Unser Theater", sagt der Intendant stolz, "ist ein Symbol für die ganze Region, ein Identifikationsobjekt." Tatsächlich prangt im Supermarkt nebenan auf Schokoladentäfelchen und anderen Süßigkeiten das Bild des Nowosibirsker Opernhauses und des weitläufigen Platzes, den man in den 30er Jahren gleich mit entwarf. Die Stadt drum herum wirkt ein bisschen so, als habe man einer sozialistischen Neutralbaulandschaft ein französisches Gewerbegebiet eingepflanzt und in diesem dann noch etliche dunkel qualmende Schlote verteilt. Das ehemalige zaristische Novonikolajewsk, das erst 1893 an einer Brücke über den Ob gegründet und mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn groß wurde, ist keine schöne Stadt. Kunst, die hilft, über das Bestehende hinauszudenken, und Kunst, die wärmt, ist hier nötiger als anderswo.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum der junge Grieche Teodor Currentzis, der 2003 als Chefdirigent nach Nowosibirsk kam, dort als Lichtgestalt gilt. "Wir sind hier sehr weit weg von Moskau und St. Petersburg - und sehr weit weg von Europa", sagt Ruslan Efremow. Auch deshalb sei die Arbeit des inzwischen weltweit - auch etwa beim RSO Stuttgart - gefragten 37-Jährigen so wichtig, denn Currentzis verbinde europäische und russische Kultur.

Tatsächlich jettet der Dirigent zwischen den Welten umher. Wenn er in Nowosibirsk ist, wohnt er in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss des Hauses - einmal, erzählt er, sei es im Winter draußen so kalt gewesen, dass er die Oper zwei Monate lang nicht verlassen habe.

Drinnen hat er dann wohl so gearbeitet, wie es in europäischen Häusern nie möglich wäre. Tarifverträge? Mag sein, dass es sie gibt. Planungen? Gibt es ebenfalls, doch vieles entscheidet man hier spontan. Zur Zeit unseres Besuches sahen die täglichen Theater-Tatsachen so aus, dass am Morgen nach der abendlichen Wiederaufnahme von Puccinis "La Bohème" bereits um 11 Uhr die Probe für die folgende Premiere, die Choroper "Boyarina Morozova" des russischen Komponisten Rodion Schtschedrin, stattfand. Zwischendurch hatte Currentzis noch zu einer sehr individuellen Premierenparty bei Wodka und Wurst in sein Büro geladen. Dort begab sich die temperamentvolle Sopranistin Veronika Dijoeva, nachdem sie zuvor auf der Bühne die Mimi gesungen hatte, am Klavier hingebungsvoll in die Nachfolge Ella Fitzgeralds. Die Party endete irgendwann. Am nächsten Morgen war die Primadonna des Hauses wie alle anderen auch pünktlich bei der Probe.

Gearbeitet wird viel in Nowosibirsk. "Wir träumen davon", sagt Sergej, der Solotrompeter des Orchesters, der im Nebenberuf Manager des Ensembles Musica Aeterna ist, "dass unser Theater das beste in Russland wird." Lächelnd zitiert er dann noch ein russisches Sprichwort: Ein Soldat, der nicht davon träumt, ein General zu werden, ist kein guter Soldat. Roman, der Mann für alles Besondere, vor allem aber für die Öffentlichkeitsarbeit an der Oper, in seinen zwei Nebenberufen Geschäftsführer sowohl einer Buchladenkette als auch eines Business-Training-Centers, stimmt ihm zu. "Was heute aus Russland exportiert wird, ist nicht das Beste. Wir haben hier viel bessere Sängerinnen als Anna Netrebko."

"Nowosibirsk war immer eine experimentelle Stadt", sagt Teodor Currentzis, das sei der erste Grund, warum er hier sei. "Hier ist manches möglich, was in europäischen Städten nicht geht." Die Puccini-Inszenierung dürfte er damit nicht gemeint haben - aus mitteleuropäischer Sicht muten die Standardmansarden über den frierenden Pariser Künstlern und das bei "La Bohème" vorherrschende Rampentheater schon sehr angestaubt an. Sein eigenes Dirigieren dürfte Currentzis damit auch nicht gemeint haben. Unweigerlich jedoch denkt man, wenn er von der Freiheit des Pultstars spricht, an die weiten, wirkungsvollen Armbewegungen, mit denen er Puccini unter Strom setzte, an die platten Effekte, vor allem aber an die magischen - vor allem leisen - Momente, die er dem Orchester entlockte. In "La Bohème" war Currentzis schon deshalb grandios, weil er seine Musiker ständig an ihre Grenzen trieb. "Das Moskauer Publikum", sagt der Dirigent, "langweilt sich bei dem, was auf der Bühne gespielt wird." Er mag es, wenn Journalisten vor ihm Sätze wie diesen auf Papier schreiben. Oder wie diesen: "Unsere Tradition hier ist das Neue."

Da ist er schon wieder, der Zusammenprall der Kulturen, der sich in der Entfernung von den großen Zentren oft so viel klarer (und manchmal auch viel skurriler) äußert als in den Metropolen. Ähnlich wie im sibirischen Restaurant, das seine Gäste zum Speisen in Jurten einlädt, ein Flachbildfernseher an der mit Fell ausgekleideten Wand hängt, residiert im Opernhaus ein präsidialer Intendant neben einem demokratischen Chefdirigenten. Noch dazu ist Teodor Currentzis ein Mann mit sehr viel Eigenart. "Gib deiner Fantasie Raum", zitiert er seinen Lehrer Ilia Musin - dieser sei, erzählt der Grieche, nur einmal von ihm enttäuscht gewesen, nämlich als er genau so dirigiert habe, wie es der Professor vorgab.

"Entscheidend", lautet einer von Currentzis' Lieblingssätzen, "ist nicht, ein Stück zu studieren, sondern sich selbst lesen zu lernen." Natürlich müsse ein Dirigent außerdem noch andere "glauben machen, dass das, was er liest, richtig ist". Leider seien die meisten Musiker heute "musikalisch tot", weil sie mit Partituren nichts wirklich Eigenes anzufangen wüssten. "Nowosibirsk ist meine ganz persönliche Einöde", fügt er dann noch hinzu, "jeder Künstler braucht so einen Ort, wo er asketisch sein kann und seine eigenen Götter und Religionen findet."

Von der Askese, nun ja, nimmt man bei dieser Reise nicht gar so viel wahr, doch vernimmt man mit Interesse den Traum des Dirigenten von einer Art musikalischem Festival-Kloster, in dem, wer auch immer anreist, mit den anderen Brot, Wein und Musik teilt. Und gefunden hat Currentzis in Sibirien offenbar einiges. Zum Beispiel sein Alte-Musik-Ensemble Musica Aeterna, das heute den Kern des Nowosibirsker Opernorchesters bildet - nicht als Puristen-Truppe, sondern als offenes, informiertes, undogmatisches, flexibles Team, das in idealer Weise das Charakterbild des modernen Musikers ausbildet, wie sich der sibirische Grieche ihn wünscht. Instinkt und Wissen gehören nach seiner Ansicht zu dessen Kernkompetenz - "wenn Musiker diese Qualitäten nicht haben, machen sie denselben Job wie Fabrikarbeiter, und als Dirigent kann man dann keine Liebesbeziehung mit ihnen haben, sondern ist nichts anderes als ein pragmatischer, manchmal auch grausamer Vorarbeiter".

Schade nur, dass sich Currentzis in pragmatischen Dingen nicht gerne so deutlich ausdrückt. Wie lange er, fragt einer, denn noch hier in der Kälte bleiben werde. "Wir werden sehen." Mehr nicht. Man wird sehen. Zu beobachten ist jetzt schon, wie der Marktwert von Teodor Currentzis steigt - im Mai dirigiert er im Festspielhaus Baden-Baden erst das Balthasar-Neumann-Ensemble bei Bizets "Carmen" und bringt dann noch mit Musica Aeterna und der Kerntruppe des Opernchores, den New Siberian Singers, Purcells "Dido and Aeneas" aus Nowosibirsk an die Oos. Überhaupt verlegt der Dirigent demnächst seinen europäischen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Dort, sagt er, existiere nämlich noch eine richtige Subkultur - und "dass es in dieser Stadt nicht so viel Geld gibt, ist eine Herausforderung". Sagt's und eilt zum Flughafen. Am nächsten Tag kündet die sinkende Temperatur der sibirischen Heizungen, denen der Gefrierpunkt ganz offenbar als Spiegelachse dient, vom Herannahen einer Wärmewelle.