So sieht es heute im schweizerischen Dorf Brienz-Brinzauls unterhalb des Felsrutsches aus. In der Nacht zum 16. Juni war der Berghang über der Gemeinde abgestürzt. Foto: Keystone/dpa/Gian Ehrenzeller

Erst Galltür, dann Brienz, jetzt Bisisthal: Im Schweizer Kanton Schwyz sind mehrere Hunderttausend Kubikmeter Fels abgebrochen. Der erneute Felssturz in den Alpen kommt für Behörden und Experten nicht überraschend. Doch die Vorfälle häufen sich. Was sind die Gründe? Und was sagen Experten zu den möglichen Ursachen?

In der Schweiz ist es erneut zu einem massiven Felssturz gekommen. Demnach brachen bereits am Sonntagnachmittag (30. Juli) am Märenspitz in der Gemeinde Muotathal im Kanton Schwyz drei massive Felsformationen. Mehrere Hunderttausend Kubikmeter Fels sind dabei gen Tal gerutscht.

Auf unserer Karte sehen Sie, wo sich in den vergangenen Wochen in den Alpen Felsstürze ereignet haben:

Halber Berg ist abgebrochen

Der Gemeindeverwaltung von Muotathal zufolge ist der „halbe Berg abgebrochen“. Rund 450 000 Kubikmeter Fels donnerten im Wandergebiet Gwalpeten-Firner Loch ins Bisisthal.

Die dadurch mitgerissenen Geröllmassen summieren sich ersten Schätzungen zufolge auf eine Million Tonnen Fels. Zum Vergleich: In Brienz in Graubünden kamen Mitte Juni rund 1,5 Millionen Tonnen herunter.

30. Juli – Bisisthal, Schwyz

Zwei Videos, die auf der Webseite PilatusToday.ch zu sehen sind,  zeigen wie Unmengen an Geröll, Schutt und Steinen an der Bergflanke abbrechen und ins Tal rauschen.

Laut Medienberichten hatten sich die zuständigen Behörden am Montag (31. Juli) einen ersten Überblick über das Ausmaß des Bergrutsches verschafft. Wenn es in den kommenden Tagen stark regne, sei es möglich, dass weiteres Gestein abrutscht, heißt es.

Gefahrenlage wurde in den vergangenen Tagen immer prekärer

Dem schweizerischen Nachrichtenportal 20minuten.ch zufolge ist den Kantonsbehörden bereits seit 2019 bekannt, dass das Gestein am Berg locker ist. „Wir haben das regelmäßig gemessen“, sagt Theo Pfyl von der Gemeinde Muotathal. „Die Felsmassen hatten eine enorme Dynamik.“

Am 6. Juli seien erstmals 20 000 Kubikmeter Fels abgebrochen, woraufhin eine zusätzliche Messung installiert und der alpine Wanderweg gesperrt worden seien, berichtet der Stabschef des Gemeindeführungsstabs Muotathal. „Vom 11. Juli bis 21. Juli verzeichneten wir eine Bewegung von 21 Zentimetern und seither hat sich diese im Quadrat beschleunigt.“

Restliche Felsmassen kommen demnächst runter

Die Experten rechnen damit, dass sich auch noch das restliche lose Material in den nächsten ein bis zwei Monaten lösen wird. Der Alpinwanderweg oberhalb des Bisisthals bleibt deshalb vorläufig gesperrt, vielleicht sogar bis nächsten Frühling. „Der Fels reinigt sich jetzt noch“, erklärt Pfyl. „Durch Regen, Wind und Unwetter kommen jetzt noch die losen Steine herunter.“

16. Juli – Brienz, Graubünden

In der Nacht zum 16. Juni war bei St. Moritz ein Berghang über dem rund 50 Kilometer von St. Moritz entfernten Dorf Brienz im Kanton Graubünden abgestürzt. Die Geröllmassen kamen erst kurz vor den ersten Häusern zum Stehen.

Auch der „Brienzer Rutsch“ war von Experten seit längerem erwartet worden. Das Dorf war schon im Mai vorsorglich evakuiert worden.

Das Dorf Brienz-Brinzauls unterhalb des Felsrutsches Foto: Keystone/dpa/Gian Ehrenzeller
Ein Mann trägt einen Karton zurück in sein Haus. Gut zwei Wochen nach einem gewaltigen Schuttstrom mit einer meterhohen Geröllhalde am Ortsrand durften die Bewohner von Brienz wieder in ihre Häuser ziehen. Foto: Keystone/dpa/Gian Ehrenzeller

11. Juni – Galtür, Tirol

Im Juni war bei Galtür im österreichischen Bundesland Tirol eine gewaltige Steinlawine ins Tal gerutscht. Verletzt wurde niemand, doch der Südgipfel des Fluchthorn-Massivs im Silvrettagebirgewurde teilweise weggerissen.

Demnach ereignete sich der Bergsturz am Sonntag (11. Juni) gegen 15.30 Uhr an der Nordwestflanke am Südlichen Fluchthorn – auf rätoromanisch Piz Fenga – im Gemeindegebiet von Galtür.

Das Fluchthorn ist ein Bergmassiv in der östlichen Silvretta auf der Grenze zwischen Österreich und der Schweiz. Mit 3398 Meter ist das Fluchthorn der zweithöchste Berg in dem Gebirgsmassiv in den zentralen Ostalpen.

Was sind die Ursachen für die Häufung von Felsstürzen?

Vielerorts in den Alpen lockert sich mit dem Klimawandel Gestein, weil die gefrorenen Felsschichten antauen oder weil eindringendes Wasser Druck in Spalten erzeugt, die früher ganzjährig von Schnee und Eis bedeckt und durch den Permafrost zusammengehalten wurden. Die Menschen sind alarmiert.

Das Abtauen des Permafrosts führt zu Rissen im Fels. Das könnte, so die Vermutung von Geologen, den Vorfall im Kanton Schwyz verursacht haben. Der Klimawandel macht Felsstürze sehr viel wahrscheinlicher. Wenn Permafrost auftaut, können Berge ihre Stabilität und damit Schutt und Geröll ihren Halt verlieren.

„Es ist denkbar“, meint auch Theo Pfyl. „Wir wissen, dass es rund 100 Meter unter der Oberfläche Permafrost gab.“ Es habe sich um einen rund 100-jährigen oder gar älteren Riss im Felsen gehandelt, in dem die älteren Einheimischen als Kind sogar herumgeklettert seien. „Der Riss wurde immer größer. Inwieweit der auftauende Permafrost damit zu tun hatte, muss noch untersucht werden.“

Wird Wandern und Bergsteigen in den Alpen gefährlicher?

Auch Wandern und Bergsteigen in den Alpen wird nach Einschätzung von Experten durch den Klimawandel riskanter. „Die Gefahr im Gebirge wächst, das ist keine Frage“», ist Rolf Sägesser, Fachleiter Ausbildung und Sicherheit Sommer beim Schweizer Alpen-Club SAC überzeugt. Angesichts dieser Lage wächst nach Angaben der Bergführer in Österreich der Bedarf an fachmännisch geführten Touren.

Zur aktuellen Hochsaison sei es teils schwierig, noch Bergführer buchen zu können, erklärt der Präsident des Salzburger Bergsportführerverbands, Wolfgang Russegger. „Manch einer will sich einen Gletscher anschauen, bevor es sie nicht mehr gibt“, so Russegger über eines der Motive.

Gerade Gletschertouren seien aufgrund des Klimawandels und der dadurch vermehrten Spalten jedoch heikler denn je. Auch die Gewittergefahr und das Risiko für Starkregen seien gestiegen. Obendrein seien manche Wege zum Teil unbenutzbar geworden. Russegger: „Viele haben weder das Wissen noch die Zeit, sich auf längere Touren gründlich vorzubereiten und die Gefahren zu erkennen.“

Matterhorn – Hotspot des Klimawandels

Auch am Wahrzeichen der Schweiz, dem Matterhorn bei Zermatt im Kanton Wallis, verliert das bisher durch den Permafrost zusammengehaltene Gestein und Sediment seine Stabilität. „Wir sehen beim Permafrost einen deutlichen Trend zur Erwärmung, der sich insbesondere seit 2010 zeigt“, erläutert Jeannette Nötzli, Expertin für Schnee- und Lawinenforschung in Davos.

Welche Risiken bergen Felsveränderungen infolge des Klimawandels?

„Wir begegnen wachsenden Naturgefahren“, ergänzt Rolf Sägesser vom Schweizer Alpenclub. „Gelände, das früher problemlos zu begehen war, ist heute anspruchsvoller.“

Jan Beutel, Bergführer und Forscher an Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) erklärt: „Alles, was größer ist als ein halber Apfel, ist potenziell tödlich.“ Felsveränderungen habe es zwar schon immer gegeben. Aber: „Es gibt zunehmend größere Felsstürze.“

Die ETH-Forscher untersuchen den Einfluss des Klimawandels auf die Stabilität steiler Felswände. Sie haben am Matterhorn auf 3500 Metern Höhe an 29 Stellen Geräte installiert, die rund um die Uhr Fotos machen, Spalten und Schwingungen messen und akustische Signale registrieren. Die Grundlagenforschung soll Muster für Vorhersagen von Felsstürzen liefern.

Müssen Besucher der Alpen jetzt umdenken?

Für Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins (DAV) steht fest: Mit dem Klimawandel und dem Auftauen des Permafrosts verändern sich die Gefahren am Berg und werden an manchen Stellen sogar größer. „Damit müssen Bergsteiger lernen umzugehen.“

Zwar sei es nicht so, dass Wandern und Klettern in den Alpen unmöglich würden, aber alte Wege seien mitunter gefährlicher geworden. Wanderwege würden im Extremfall unpassierbar. „Meistens werden aber Umwege eingerichtet.“ Die Touristen müssten um die neuen Gefahren wissen und gewappnet sein. Bucher: „Offene Augen zu haben, zu wissen, was am Berg los ist, ist die beste Lebensversicherung.“