Britische Richter: Sie sollen angewiesen worden sein, die Gefängnisse nicht noch mehr zu belasten. Foto: imago//Thomas Krych

Die Richter in England und Wales sind angewiesen worden, die Verhängung von Haftstrafen aufzuschieben. Die Gefängnisse sind so voll, dass sie keine Leute mehr aufnehmen können. Kritiker sind entsetzt.

Erhebliche Unruhe hat im Vereinigten Königreich ein Bericht ausgelöst, demzufolge alle Richter in England und Wales angewiesen worden sind, mit Haftstrafen vorerst zu warten. Der Grund: Die Gefängnisse sind so voll, dass sie keine Gefangenen mehr aufnehmen können. Die konservative Londoner „Times“, der entsprechende Informationen zugespielt wurden, reagierte empört: „Von kommender Woche an werden verurteilte Vergewaltiger und Einbrecher frei auf den Straßen herumspazieren.“

Tatsächlich liegt die Zahl der Gefangenen in den 120 englischen und walisischen Haftanstalten inzwischen bei insgesamt über 88 000 – nur knapp unter der vollen Kapazität von 88 670. Bereits im November soll die Kapazität voll ausgeschöpft sein.

Verurteilte notfalls auf dem Kontinent einsperren?

Dieses Jahr wurden schon 400 Polizeizellen umfunktioniert, um Häftlinge auf zu nehmen. Auf dem Tory-Parteitag vor zwei Wochen verkündete Justizminister Alex Chalk, dass die Regierung in Verhandlungen mit europäischen Regierungen getreten sei, um eventuell ausländische Gefängniszellen „mieten“ zu können. Dafür würde man sogar die Gesetze ändern.

Unter diesen Umständen soll der Präsident der Gerichtsbarkeit von England und Wales, Lord Justice Edis, die Richter der für schwere Strafen zuständigen Crown Courts angewiesen haben, die Verkündung von Gefängnisstrafen für Kriminelle, die sich noch gegen Auflagen auf freiem Fuß befinden, während sie auf ihr Strafmaß warten, aufzuschieben. Das würde bedeuten, dass bereits schuldig gesprochene Personen vorläufig nicht hinter Gitter müssen. Im englischen Rechtssystem gibt es eine Zeitspanne zwischen Schuldspruch und Strafzumessung.

Vorzeitige Entlassungen schon ab nächster Woche?

Die „Times“ zitierte einen namentlich ungenannten hohen Crown-Court-Richter, dem diese als Anweisung verstandene „dringliche Empfehlung“ von Lord Justice Edis zugegangen war. Der betreffende Richter meinte: „Man hat uns gesagt, dass dies eine kurzfristige Maßnahme sei, aber was das bedeutet, weiß niemand genau.“

Zugleich arbeite man im Justizministerium an Plänen zur vorzeitigen Entlassung von Häftlingen, berichtete die „Times“ weiter. Beginnen könnten diese Freilassungen „nächste Woche schon“.

Die Regierung wolle dieses Wochenende außerdem neue Richtlinien erstellen, die dazu führen sollen, dass Strafen von weniger als einem Jahr Haft seltener verhängt und die Betreffenden stattdessen zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt werden. Das würde zum Beispiel Personen den Gang ins Gefängnis ersparen, die wegen Diebstahls, Drogenhandels, Autofahrens in betrunkenem Zustand oder Störung der öffentlichen Ordnung verurteilt wurden.

Die Opposition attackiert den Justizminister

Oppositionspolitiker zeigten sich entrüstet über die angeblichen Pläne. „Das Gefängniswesen ist in komplettem Chaos“, erklärte die Labour Party. Die Regierung selbst wehrt sich wiederum gegen den Vorwurf, das Problem seit Jahren ignoriert zu haben. Justizminister Chalk macht seinerseits die Covid-Pandemie und den jüngsten Anwaltsstreik für die „schwere Belastung“ der Gefängnisse verantwortlich.

Tatsächlich war die Zahl der Insassen aber schon vor Beginn der Pandemie dramatisch gestiegen. Die Zahl der Untersuchungshäftlinge ist so groß, weil die Justiz nicht mit den anstehenden Verhandlungen nicht nachkommt. Der Verband der Gefängnisdirektoren sieht ein zusätzliches Problem im Verhalten einer Regierung, die Strafen seit Jahren immer mehr verschärft und verlängert habe, um in der Öffentlichkeit Härte zu demonstrieren.

Gefängnisgebäude sind in marodem Zustand

Ebenfalls in Erinnerung gebracht hat die neue Krise den teils katastrophalen Zustand vieler Gefängnisse in Wales und in England. Ein Fünftel aller Gefangenen ist in völlig überfüllten Anstalten untergebracht. Im Gefängnis Wandsworth in Süd-London zum Beispiel sollten höchstens 900 Gefangene untergebracht sein. Tatsächlich sind es jetzt aber 1600. Das Gefängnis Pentonville in Nord-London war einmal für 450 Gefangene gebaut worden. Dort sitzen inzwischen 1200 hinter Gittern.

Von Ratten, bröckelndem Beton und akutem Mangel an Wachpersonal berichtet die Aufsichtsbehörde für Gefängnisse, von denen viele noch aus viktorianischen Zeiten stammen. Erst im Vormonat hatte Charlie Taylor, der Chef-Inspekteur für Gefängnisse, erklärt, jedes zehnte englische Gefängnis sei „völlig ungeeignet“ und „sollte geschlossen werden“. Dieses Jahr hatte deshalb ein Gericht in Karlsruhe sich geweigert, der Auslieferung eines Untersuchungshäftlings nach England zuzustimmen.