Provokante Ursachenforschung: Slavoj Zizek Foto: dpa/Arne Dedert

Der Krieg in Israel überschattet die Buchmesse. Im Mittelpunkt steht der Streit um die verschobene Auszeichnung des Romans „Eine Nebensache“ der palästinensischen Autorin Adania Shibli. Bei der Eröffnungsrede von Slavoj Zizek kommt es zum Eklat.

So kann es auch gehen. Gerade ist der österreichische Autor Tonio Schachinger im Kaisersaal des Frankfurter Römers zum diesjährigen Träger des Deutschen Buchpreises gekrönt worden, da stiehlt seiner Gesellschaftsstudie aus adoleszenter Untersicht „Echtzeit“ ein anderer Roman die Schau. Er handelt von der Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens, begangen von israelischen Soldaten ein Jahr nach Gründung des Staates Israel. Geschildert wird das Geschehen von zwei Seiten: der visionären Objektivität eines über dem flimmernden Wüstensand schwebenden Erzählers und der Ich-Perspektive einer im Jahr der Tat geborenen Palästinenserin. Jahrzehnte später geht sie, über einen Zeitungsartikel aufmerksam geworden, dem Geschehen nach und wird im Gewirr von Sperrzonen besetzter Gebiete von einem israelischen Grenzpolizisten erschossen.

Der Roman trägt den Titel „Eine Nebensache“ und ist gerade dabei, sich auf dieser Messe zu einer Hauptsache zu entwickeln. Ihm liegt ein realer Fall zugrunde, den die israelische Tageszeitung „Haaretz“ recherchiert hatte. Geschrieben hat ihn bereits 2017 die palästinensische Autorin Adania Shibli. Er war für internationale Preise wie den National Book Award nominiert, erhalten hat er im Sommer den LiBeraturpreis, der seit 1986 von dem messenahen Verein Litprom für Literatur aus dem Globalen Süden vergeben wird.

Engagement für die BDS-Bewegung

Begeisterten Kritiken stehen solche gegenüber, die der Autorin eine einseitig negative Darstellung der jüdischen Figuren vorwerfen, einer der Juroren trat aus Protest gegen die Preisvergabe zurück. Diese hätte an diesem Freitag auf der Messe stattfinden sollen. Doch nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel beschloss die Messeleitung, den Termin zu verschieben.

Seitdem tobt ein Streit zwischen denen, die nach den Ereignissen in Israel ein Buch wie dieses für unzumutbar halten, und jenen, die das Selbstverständnis der Messe als offene Diskussionsplattform beim Wort nehmen. In einem von 600 Intellektuellen, darunter mehrere Nobelpreisträgerinnen, unterzeichneten Brief, mahnen sie die Messe an ihre Verantwortung, auch palästinensischen Stimmen Gehör zu verschaffen.

Ohne dieses Recht infrage zu stellen, sei daran erinnert, dass die Messeleitung in den letzten Jahren häufig dafür gescholten wurde, zu vielen Stimmen Raum zu geben. Andererseits ist es noch nicht lange her, da wurde auf der Leipziger Frühjahrsmesse heftig diskutiert, ob für die Ukraine die regimekritische russische Lyrikerin Maria Stepanova als Trägerin des Preises für Europäische Verständigung zumutbar sei. Einer der gegen Shibli erhobenen Vorwürfe ist ihr Engagement in der umstrittenen israelkritischen BDS-Bewegung, zumindest hat sie einmal ihren Namen unter eine Unterschriftenliste gesetzt.

Das Hohe Lied der Meinungsfreiheit

Doch im Falle von Literatur ist Lesen immer noch die beste Urteilsbasis. Und da wird man Adania Shiblis intensiver, hoch verdichteter Prosa ihre Literarizität so wenig absprechen können wie die Qualität, dass darin Perspektiven und Atmosphären eingefangen sind, die zu einem Bild der Lage gehören würden.

Und so ist die palästinensische Autorin in der Eröffnungskonferenz der stumme Elefant im schneckenhausförmigen Frankfurt- Pavillon, wenn von dem Messedirektor Juergen Boos und der Vorsitzenden des Börsenvereins des Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, das Hohe Lied auf den freien Austausch von Meinungen und den Bedarf an mutigen Stimmen angestimmt wird.

Erst als zum Schluss die Frage nach der Preisverschiebung gestellt wird, nimmt Boos Stellung, sichtlich lavierend. Man habe die Autorin schützen wollen, was aber offenbar nicht möglich war, ohne sie zu brüskieren. Die Entwicklung im Nahen Osten bedingt noch einen weiteren Ausfall: Eigentlich hätte Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen mit der slowenischen Ministerpräsidentin Nataša Pirc Musar am Abend die Messe eröffnen sollen, wegen seiner Reise nach Israel wird er von der Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, vertreten. Und dann kommt es doch noch zum Eklat. Am Ende der Stafette von Eröffnungsreden ergreift der anwesende slowenische Philosophie-Shootingstar Slavoj Zizek das Wort. Er wird mit Applaus begrüßt, schickt seiner Rede aber voraus, dass sich dies bald ändern könnte. Auf die Versicherung, er verurteile die abscheulichen Hamas-Verbrechen und räume Israel ein Selbstverteidigungsrecht ein, folgt ein großes Aber. Man dürfe immer nur diesen ersten Teil äußern, die Frage nach den Ursachen der Verbrechen sei dagegen mit einem Tabu belegt, dass man nur um den Preis, des Antisemitismus verdächtigt zu werden, verletzen dürfe. Als Zizek die Siedlungspolitik der israelischen Regierung mit den Auslöschungsfantasien der Hamas vergleicht, erntet er wütende Zwischenrufe. Ein Zuhörer versucht, die Rede zu unterbrechen, Zizek hält dagegen, mit der zuvor gepriesenen Zuhörbereitschaft sei es offenbar soweit nicht her. Viele verlassen den Saal, mit Buhrufen bedacht endet sein Auftritt. Aber vielleicht ist diese Empörung Teil eines notwendigen Gesprächs, für das sich kein besseres Forum als die Frankfurter Buchmesse denken lässt.