Erst flogen die Fetzen am Reifen, dann ließ Sebastian Vettel die Fetzen im Fahrerlager fliegen Foto: AP

Sebastian Vettel wirft Pirelli nach seinem Unfall in Spa vor, miserable Reifen zu produzieren und in Italien ist sogar schon von einem Reifenkrieg die Rede. Doch der Pneu-Lieferant aus Mailand bleibt erstaunlich ruhig.

Stuttgart/Spa - Ein Reifenkrieg? „Zwischen Ferrari und Pirelli ist ein Krieg ausgebrochen“, titelte die Tageszeitung „La Repubblica“. Maurizio Arrivabene dürfte diese Überschrift nicht gerne gelesen haben, und deshalb sah sich der Ferrari-Teamchef subito genötigt, die vermeintliche Kriegserklärung von Spa-Francorchamps zu entkräften. „Ich werde keinen Kampf mit Pirelli eröffnen“, stellte der Italiener klar, „unsere Strategie war vielleicht aggressiv, aber nicht riskant. Wir würden niemals ein unnötiges Risiko für einen unserer Fahrer eingehen.“ Sein Hintergedanke: Bei einer öffentlichen Schlammschlacht würde es nur Verlierer geben – und auf eine schlechte PR kann sowohl Ferrari als auch Pirelli gerne verzichten.

Am Sonntag war beim Großen Preis von Belgien der rechte Hinterreifen von Sebastian Vettels Auto bei höchstem Tempo unvermittelt geplatzt, glücklicherweise auf einem geraden Streckenabschnitt und so blieb der Heppenheimer unverletzt. Hinterher wetterte er, die Reifen seien „miserabel“ und er befürchte, „demnächst knallt einer in die Wand“. Damit hatte der viermalige Weltmeister eine heftige Debatte ausgelöst. Nico Rosberg bekräftigte Vettels Kritik. „Wir haben beide Riesenglück gehabt, es kann nicht sein, dass die Reifen ohne Vorwarnung einfach platzen“, sagte der Mercedes-Fahrer, dem im Freitagstraining ebenfalls ein Reifen explodiert war. Im seinem Fall hatte Pirelli einen Fremdkörper in der Lauffläche als Ursache ausgemacht und einen Materialfehler ausgeschlossen.

Auch Pirelli ist an einer Eskalation an der Affäre nicht gelegen. Schon am Sonntagabend hatte Paul Hembery sachlich auf die Kritik geantwortet und sogar Verständnis für Vettels Verärgerung geäußert. Nun wies der Pirelli-Motorsportchef mit Nachdruck darauf hin, dass durch Ferraris Ein-Stopp-Strategie die Lebensdauer des Pneus deutlich überschritten worden war. Zwei oder drei Stopps seien empfohlen worden, die betreffende Mischung sei für maximal 22 Runden ausgelegt gewesen. Vettel hatte beim Platzer bereits 28 Umläufe mit diesem Satz hinter sich. Pirelli untermauerte seine Verteidigung mit weiteren Argumenten, nüchtern und sachlich.

Pirelli ist überzeugt: Unfall hätte verhindert werden können

Das Unternehmen aus Mailand ist überzeugt, dass der Schaden hätte verhindert werden können. Ende 2013 hatte Pirelli gebeten, dass neben anderen Parametern eine Rundenobergrenze pro Reifensatz festgelegt wird. Maximal 50 Prozent der Distanz sollten auf dem Prime- und maximal 30 Prozent auf dem Options-Reifen zurückgelegt werden dürfen. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Nach dieser Rechnung hätten in Spa auf der Medium-Mischung maximal 22 Runden gefahren werden dürfen – eine Ein-Stopp-Strategie wäre unmöglich gewesen. „Es ist schwierig, so etwas zu erzwingen“, erklärte Hembery, „damit begrenzt man den Einfluss der Ingenieure in der Strategie und bei der Entwicklung. Vielleicht kommen wir jetzt auf diesen Vorschlag zurück.“

Es wäre eine Möglichkeit, die Sicherheit beim Reifen-Management zu erhöhen. Es wäre nicht die einzige. 2012 diskutierte die Formel 1 über die Einführung eines intelligenten Reifens („smart tyre“). Die mit Sensoren bestückte Walze sammelt Informationen über Parameter wie Temperatur und Luftdruck. Dabei könnten auch der Zustand des Materials, die Menge an Wasser auf der Strecke oder das Haftungsniveau ermittelt werden – und nicht nur den Ingenieuren, sondern auch den Fans übermittelt werden. Aber auch ein kluger Pneu hat Grenzen. „Auf einer sieben Kilometer langen Strecke wie in Spa können scharfkantige Teile an vielen Stellen lauern“, sagte Hembery, „ein smart tyre hätte vielleicht vorgewarnt, dass sich ein Defekt anbahnt. Aber ob er ihn identifiziert hätte?“ Die Antwort bleibt offen.

Womöglich ist Vettel mit seiner Kritik ein wenig übers Ziel hinausgeschossen, doch das Thema Sicherheit anzusprechen war kaum ein Fehler. Die Chefs von Ferrari und Pirelli haben, nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen haben, sachlich und in angemessenen Ton reagiert. Maurizio Arrivabene und Paul Hembery stellen sich nicht gegenseitig an den Pranger, sie wollen gemeinsam nach der Ursache forschen. So einig dürfen sich sämtliche Beteiligte in der Formel 1 ruhig häufiger sein.