Protagonist Imad in einer Filmszene Foto: privat

Benjamin Rost hat Regie an der Filmakademie Ludwigsburg studiert. Nun ist er mit seinem Debütfilm auf Kinotour und besucht mit einem der Protagonisten seinen alten Studienort.

Jede Nacht versucht der 14-jährige Imad, mit seinen Freunden in Marokko über die zwölf Meter hohen Zäune in Melilla zu klettern – dem größten Grenzzaun Europas. Ihr Ziel: der Hafen von Melilla. Dort möchten sie auf Schiffe gelangen, die nach Spanien fahren. Zwei Stunden vorher treffen sie sich, singen, tanzen und sprechen sich Mut zu: „Wir schaffen es heute alle nach Málaga.“ Nach jedem Zaunabschnitt, den sie überwinden, klatschen sie sich ab. Was wie die Vorbereitung auf ein Sportevent wirkt, ist das Schicksal von rund 150 marokkanischen Kindern und Jugendlichen.

Das Leben von Imad und seinen Freunden hat der Regisseur Benjamin Rost fünf Jahre lang begleitet. Der 37-Jährige hat zwischen 2013 und 2020 an der Filmakademie Ludwigsburg Regie studiert. Mit Anfang 20 hat er begonnen, seine eigenen Filme zu drehen. „Harraga – Those who burn their lives“ ist nun sein Debütfilm und wurde erstmals im Oktober 2023 beim Züricher Filmfestival gezeigt. Auch die deutschen Zuschauer sollen diesen künftig zu sehen bekommen, darunter in Ludwigsburg.

Aus zehn Tagen werden fünf Jahre

Als Rost 2017 nach einem zweieinhalbjährigen Aufenthalt in Afrika wieder nach Europa kam, war er schockiert, dass aufgrund der Flüchtlingskrise wieder Grenzen aufgebaut wurden. „Als Filmemacher habe ich gedacht: Ich muss mich damit beschäftigen. Ich möchte unbedingt an diese Grenzen von Europa.“ Die Reise führte ihn nach Melilla. Sein Ziel war zunächst, mit der Grenzpolizei zu sprechen. Eines Abends beobachtete er jedoch, wie auf der anderen Seite des Zaunes rund 15 Kinder aus einer Höhle krabbelten. Seine Neugier war geweckt.

Am nächsten Morgen kletterte er selbst über den Zaun und lernte die Gruppe um Imad kennen. Sie waren damals zwischen elf und 15 Jahre alt und lebten in Höhlen. Zehn Tage und Nächte lang hat er das Leben der Jungen gefilmt und alles mitgemacht, was sie gemacht haben. „Wenn sie nachts über den Zaun stiegen, stieg ich halt auch über den Zaun“, sagt Rost. „Aus den ersten zehn Tagen wurden am Ende fünf Jahre.“

Durch Filme einen Dialog zwischen den Menschen schaffen

Dieser lange Zeitraum sei ein großer Unterschied zu seinen Arbeiten während der Studienzeit gewesen, sagt der Regisseur. Bisher habe er für seine Filme höchstens zwei Monate Zeit gehabt. Nun konnte er aber die Protagonisten länger begleiten und durch zusätzliche Recherchen ihre Familien in Marokko kontaktieren und besuchen. Das habe ihn immer schon an Dokumentarfilmen fasziniert. „Ich bin nicht der, der sich zu Hause in einem Zimmer einsperrt und schreibt. Ich gehe einfach raus und schaue mir die Welt an“, sagt der Filmemacher. Er sieht es als Privileg, bei Dokumentationen in das Leben von anderen Menschen eintauchen und daraus lernen zu dürfen.

Außerdem würden Dokumentarfilme eine Möglichkeit bieten, Menschen in Dialog zu bringen, sagt Rost. Diese Brücken zu bauen, sehe er als seine zentrale Aufgabe. So hofft er, dass die Menschen etwas aus der Geschichte der marokkanischen Jungen lernen können. Denn es gebe viele Kinder und Jugendliche, die es nach Europa schaffen, aber dann in der Illegalität leben und oft gar nicht mehr rauskommen. „Der Film bietet Einblicke in eine Welt, die uns sonst komplett verborgen bleiben würde“, sagt er.

Miteinander sprechen und nicht nur übereinander

Deshalb hat er sich dafür entschieden, eine Kinotour durch Deutschland zu machen und bei den einzelnen Vorstellungen Gespräche im Anschluss anzubieten. Sodass die Menschen nicht nur über das Schicksal von anderen urteilen, sondern auch mal direkt mit ihnen sprechen. Denn neben Benjamin Rost wird Imad dabei sein – einer der Protagonisten des Films „Harraga“, der es tatsächlich nach Spanien geschafft und sich dort ein neues Leben aufgebaut hat.

Am 19. Juni ist um 17 Uhr die Premiere von „Harraga“ im Caligari in Ludwigsburg, einen Tag später um 22.15 Uhr im Cinema Stuttgart.

Zwischen Nordafrika und Europa

Melilla
Obwohl sich Melilla auf marokkanischem Grund befindet, gehört es zu Spanien und demnach zur EU. Dort steht der größte Grenzzaun Europas. Kletternd oder schwimmend versuchen die Jungen, den Zaun zu überwinden. Ähnlich wie Imad schaffen es auch andere mit Schiffen nach Spanien, führen dann aber ein Leben in der Illegalität. Die meisten Flüchtlinge werden aber brutal von der Guardia Civil abgehalten.

Harraga
In nordafrikanischen Ländern wird der Begriff meist mit „brennen“ übersetzt. Der vollständige Filmtitel „Harraga –Those who burn the passports, the borders, their lives“ beschreibt, wie die Jugendlichen in den Höhlen ihre Pässe verbrennen, um ihre Identität zu verschleiern. Es steht aber auch als Symbol für den Beginn des neuen Lebensabschnittes.