Jan Bülow (links) als Physiker Johannes Leinert in einer Szene aus dem Film „Die Theorie von allem“ . Foto: dpa

Bei den Filmfestspielen von Venedig kann der deutsche Film „Die Theorie von allem“ von Timm Kröger locker mit der Konkurrenz aus Hollywood mithalten. Roman Polanskis „The Palace“ dagegen wartet mit unangenehmen Klischees auf.

Es kommt nicht aller Tage vor, dass im Wettbewerb von Venedig auch ein deutscher Film um den Goldenen Löwen konkurriert. Und noch seltener, dass der dann auch noch für fast genauso viel Gesprächsstoff sorgt wie die Konkurrenz aus Hollywood. Doch genau das ist Timm Kröger am zurückliegenden Wochenende mit „Die Theorie von allem“ gelungen.

Der in Itzehoe geborene Regisseur hatte vor neun Jahren mit „Zerrumpelt Herz“ sein Regiedebüt vorgelegt, das damals ebenfalls auf dem Lido in einer Nebenreihe Premiere feierte, es aber nie in die deutschen Kinos schaffte. Im Nachfolgefilm nun erzählt er eine Geschichte, die in den 1960er Jahren in einem Hotel in den Schweizer Alpen spielt: der junge Wissenschaftler Julius Strathen (Jan Bülow) fährt zu einem Physik-Kongress in die Berge, Skifahren inklusive. Dort geht zwar sein Doktorvater (Hanns Zischler) hart mit seiner Dissertation ins Gericht, doch er macht auch die Bekanntschaft eines anderen Professors, der an seinen Thesen zur Quantenmechanik großes Interesse zeigt. Als der allerdings tot im Schnee liegt und die geheimnisvolle Pianistin Karin (Olivia Ross) plötzlich verschwunden ist, stößt Julius auf immer mehr rätselhafte Entdeckungen.

Wie ein Traum solle sich sein Film anfühlen, gibt Kröger zu Protokoll, was auch zur Folge hat, dass die eigentliche Handlung, obwohl komplex, hier fast zweitrangig ist. Entscheidend ist die Art und Weise des Erzählens, zwischen Film Noir und deutschem Bergfilm, mit Hitchcock ebenso als Pate wie der derzeit so beliebten Idee der Multiversen. Bülow als entweder verkanntes Genie oder bloßer Paranoiker (womöglich beides gleichzeitig!) etabliert sich nach „Lindenberg! Mach dein Ding“ endgültig als große Hoffnung des deutschen Kinos, und die Schwarzweiß-Bilder von Kameramann Roland Stuprich sind eine Klasse für sich. Überhaupt: die Mittel und Magie des Kinos haben im diesjährigen Wettbewerb noch nicht viele so umfassend ausgeschöpft wie Kröger. Da tat es der Freude des deutschen Filmteams kaum Abbruch, dass die Pressekonferenz von „Die Theorie von allem“ deutlich schwächer besucht war als die der großen amerikanischen Oscar-Anwärter, die am Wochenende ebenfalls Premiere hatten.

Bradley Cooper spielt den Komponisten Leonard Bernstein

Bradley Cooper zum Beispiel, der aufgrund des Streiks nicht offiziell beim Festival in Erscheinung trat, hat mit „Maestro“ als Regisseur und Hauptdarsteller dem Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein ein Denkmal voll Energie und Herz gesetzt. Ohne dezidiert alle Karrierestationen und biografischen Details abzuhaken (um „West Side Story“ etwa geht es nur am Rande), gelingt es Cooper auf reizvolle Weise, verschiedenen Zeitebenen und gleichermaßen in Schwarzweiß wie Farbe, sowohl Bernsteins Ausnahmekönnen in den Fokus zu nehmen und dabei seiner musikalischen Arbeit genügend Platz einzuräumen als auch das Privatleben auszuleuchten. Der Fokus liegt dabei auf der Ehe zu seiner innig geliebten Ehefrau Felicia, mit der er drei Kinder hatte, obwohl er eigentlich auf Männer stand. Hier und da hätte „Maestro“ dabei allerdings noch etwas tiefer in die Psychologie des egomanischen Showmans und der – nicht unbedingt unfreiwillig – zurücksteckenden Gattin vordringen können, die Carey Mulligan mit famosem Spiel zur eigentlichen Protagonistin des Films macht.

Michael Fassbender gibt den Antihelden

Statt überbordenden Emotionen waren in „The Killer“, dem neuen Film von David Fincher, Kälte und Brutalität angesagt. Mit der Präzision seines Titel gebenden Auftragsmörders inszeniert Fincher einen intellektuell angehauchten Thriller in sechs Kapiteln, dessen von Michael Fassbender stoisch, aber intensiv gespielten Antihelden bei seiner jüngsten Mission ein unerwarteter Fehler unterläuft, der tragische Konsequenzen hat und einen tödlichen Rachefeldzug nach sich zieht. Das Genre-Rad erfindet der US-Regisseur dabei nicht neu, und ab und an hätten der Geschichte ein bisschen mehr Action und etwas weniger Off-Kommentar vielleicht gutgetan. Aber an der Genauigkeit der Regieführung, der Musik von Trent Reznor und Atticus Ross oder Tilda Swinton in einer großartigen Nebenrolle gibt es rein gar nichts auszusetzen.

Polanski und die Einladung seines Films nach Venedig sind umstritten

Womit man dann auch bei „The Palace“ wäre, dem neusten Film des inzwischen 90-jährigen Roman Polanski, der dem Lido fernblieb, weil Italien ein Auslieferungsabkommen mit den USA hat, wohin der Regisseur nach seiner Verurteilung wegen Vergewaltigung einst vor einer Gefängnisstrafe geflohen war. Nachdem in den vergangenen Jahren weitere Vorwürfe sexueller Gewalt gegen ihn erhoben wurden, ist Polanski selbst, aber auch die Einladung seines neuen Films nach Venedig höchst umstritten. Die beiden deutschen Schauspieler Oliver Masuscci und Milan Peschel, die zu dessen Ensemble gehören, schwärmten vor Ort trotzdem von der Zusammenarbeit mit dem Oscar-Gewinner.

Interessanterweise ist „The Palace“ nun fast so etwas wie das Gegenstück zu „Die Theorie von allem“. Auch in dieser außer Konkurrenz gezeigten Satire spielt die Geschichte in einem Hotel in den Schweizer Alpen, wo am letzten Tag des vergangenen Jahrtausends diverse reiche, durch die Bank unangenehme Menschen (unter anderen gespielt von Mickey Rourke, Fanny Ardant oder John Cleese) zusammentreffen. Doch statt einer preiswürdigen Überraschung wie bei Timm Kröger ist das Ergebnis eine hochnotpeinliche, billig aussehende Katastrophe voll dümmlicher Gags und unangenehmer Klischees.