Das Furtbachhaus mit seinem beherrschenden Eckturm Foto: Lichtgut/Horst Rudel

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln dieser Stadt verborgen sind. Diesmal: das Furtbachhaus.

Stuttgart - Es gibt ja durchaus einige repräsentative Veranstaltungsstätten in der Stadt: die Alte Reithalle im Westen, den Weißen Saal im Neuen Schloss, die Phoenixhalle in der Reiterkaserne hoch über dem Neckar. Auf einen weiteren, sehr schönen Saal allerdings muss Stuttgart seit 1957 verzichten: Es handelt sich um den Festsaal des Furtbachhauses, der auf Betreiben der Stadt zugunsten eines neuen Operationssaals abgerissen wurde. Ein Saal, der heute noch jeden Veranstalter oder Verein begeistern würde.

Einer, der in diesem Festsaal einst aus und ein gegangen ist, ist Hans Martin Wörner. Sein Vater, Hans Wörner, war von 1947 bis 1957 als Jugendsekretär beim Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) in Stuttgart angestellt, ehe er Pfarrer im neuen Stadtbezirk Dürrlewang wurde. In jenen zehn Jahren in der Furtbachstraße, gegenüber der Marienkirche, wohnte die Familie Wörner in einem Nebengebäude. Der heute 69-jährige Hans Martin Wörner war seinerzeit also ein Kind und kennt diesen Saal folglich noch aus eigener Anschauung. Zudem hat er im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Quellen übers Furtbachhaus studiert.

Entworfen wurde das Gebäude von einem CVJM-Vereinsmitglied, dem Oberbaurat Heinrich Dolmetsch. Zuvor, im 19. Jahrhundert, war dort noch ein „wildes Gartengelände, die Furtbachmühle wurde vom Bächle mit Wasser versorgt“. Im Jahr 1903 wurde der Bau bezogen. Die 1,3 Millionen Goldmark wurden über Spenden finanziert. Dolmetsch ist in Stuttgart vor allem als Erbauer der Markuskirche bekannt, er war im Land als Kirchenrenovierer und Akustik-Experte viel beschäftigt. „Mit dem Furtbachhaus hat er sich ein weiteres architektonisches Denkmal gesetzt“, sagt Wörner. „Es war eines unter den vielen großen CVJM-Vereinshäusern des frühen 20. Jahrhunderts in Europa, die eine wichtige soziale Funktion erfüllten.“ Zeitzeugen stuften es als „das schönste und modernste Haus für junge Männer“ ein. Der Bedarf für eine derartige Unterkunft in Stuttgart war enorm „angesichts der in jenen Jahren in die zügig wachsende Großstadt strömenden Jugendlichen und jungen Männer“.

Das Haus verfügte über das erste öffentliche Schwimmbad Stuttgart

„Mit seinen rund 80 Pensionszimmern, einem großen Festsaal und einem Schwimmbad verfügte das Haus über eine beinahe luxuriöse Ausstattung“, heißt es im 1991 im Dietrich Reimer Verlag erschienenen Architekturführer Stuttgart. „Die orangefarbene Klinkerverkleidung, die mit hellen Putzflächen wechselt, korrespondiert mit der grünen Kupferhaut des Turmhelmes.“

„Es war eines der wenigen Gebäude mit einem riesigen, wunderschön ausgestalteten Saal, das im Zweiten Weltkrieg nicht zerbombt wurde“, erläutert Wörner. Im Hallenbad des Furtbachhauses lernte beispielsweise der später legendäre SPD-Politiker Carlo Schmid, der im Frühjahr 1914 am Karls-Gymnasium sein Abitur ablegte, das Schwimmen. Ansonsten ist vor allem der Festsaal von einer sehr wechselvollen Geschichte und Nutzung geprägt. Denn der CVJM wurde öfter ausquartiert. Wörner zeigt eine Fotografie, auf der französische Gefangene zu sehen sind, die im ersten Weltkrieg im zum Lazarett umfunktionierten Saal untergebracht wurden – großteils mit verbundenen Armen oder gar in den dort aufgestellten Betten liegend. 1939 diente das Furtbachhaus erneut als Klinik.

Viele ältere Stuttgarter verbinden mit dem Furtbachhaus jedoch ein Ereignis, das nach dem Krieg stattfand und von großer politischer Bedeutung war. Wurde hier doch am 15. Juli 1946 die erste Sitzung der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden abgehalten. Ende 1946 gab es die erste Landtagssitzung im Festsaal des Hauses – mit der Alterspräsidentin Elly Heuss-Knapp (Deutsche Volkspartei, DVP), der Gattin des späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Bereits kurz davor war das Haus Schauplatz der Gründung einer konservativ-christlich geprägten Partei. Am 10. November 1945 fand die erste öffentliche Kundgebung der von der amerikanischen Militärregierung genehmigten neuen Partei statt – der Christlich Sozialen Volkspartei. Erst am 13. Januar 1946 folgte die Umbenennung in Christlich Demokratische Union, wie der Historiker Wolfram Pyta in seiner Abhandlung über die Anfänge der CDU in Stuttgart erläutert. Später wurde der Festsaal für künstlerische Zwecke genutzt: Karl Münchinger dirigierte hier das Stuttgarter Kammerorchester, es gab Konzerte der Hymnuschorknaben.

Leiter der heutigen Furtbachklinik ist Professor Dr. Etzersdorfer

In den Folgejahren, nachdem der CVJM seinen Neubau an der Büchsenstraße bezogen und sein vorheriges Domizil an die Stadt verkauft hatte, diente das Furtbachhaus mal für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der DDR, als Wohnheim für Polizisten oder als Chirurgische Klinik. Auch heute erinnern sich noch manche Stuttgarter daran und berichten: „Im Furtbachhaus hat man mir geholfen, als ich mir den Daumen gebrochen hatte.“ 1996 zog die vormalige „Klinik der offenen Tür“, eine Klinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen, aus Ostheim ins Gebäude in der Furtbachstraße. Leiter der Furtbachklinik ist ein Österreicher: der Universitäts-Professor Dr. Elmar Etzersdorfer. Er ist höchst erfreut, als er bei einem Besuch Wörners so viel ihm bisher Unbekanntes zur Historie des Furtbachhauses erfährt.

Das Furtbachhaus ist mittlerweile denkmalgeschützt. Davon war in den 50er Jahren allerdings noch keine Rede. Denn sonst hätte der im hinteren Teil des Gesamtkomplexes gelegene, wunderbare Festsaal mit seiner Kapazität für 1200 Besuchern vor knapp 60 Jahren sicher nicht abgerissen werden dürfen. Wörner zückt eine farbige Postkarte aus seinem reichhaltigen Fundus – es ist kein Foto, aber eine kolorierte Zeichnung des Festsaals mit seiner riesigen Orgel, der Bühne, dem Rednerpult, der Balustrade, den von der hohen Decke hängenden Leuchtern und der gedeckten Kaffeetafel auf rosa Tischdecken. Kopfschüttelnd blickt er auf die Karte, auf dessen Rückseite „Farbendruck von Carl & August Ulshöfer, Stuttgart“ steht.

Hans Martin Wörner macht aus seiner Verärgerung über den Umgang mit dem Haus im Laufe der Jahrzehnte keinen Hehl: „Durch profane Nutzung und Zwangsbelegung als Lazarett durch die Stadt Stuttgart im ersten und zweiten Weltkrieg wurde das stark frequentierte Heim – mit dem ersten öffentlich zugänglichen Hallenbad in Stuttgart – aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verdrängt.“ Und „besonders der Abriss des Festsaals, eines der wenigen erhaltenen Nachkriegs-Versammlungsräume, war 1957 der finale barbarische Akt der Stadt unter Oberbürgermeister Klett“.

Stuttgarter Entdeckungen“ im Buchformat

26 der in unserer Zeitung veröffentlichten Beschreibungen sind als Buch erschienen: „Stuttgarter Entdeckungen“, 160 Seiten, 100 Fotos und Karten. Silberburg-Verlag Tübingen und Karlsruhe. Hrsg. Stuttgarter Nachrichten, 14,90 Euro.