Ewald Lienen in gewohnter Pose: Emotional geladen und mit Notizblock ausgerüstet Foto: Bongarts

Der FC St. Pauli redet nicht nur über soziale Verantwortung, der Zweitligist lebt sie auch. Ein sympathischer Gegenentwurf zu einer Fußballwelt, in der die eigentlichen Werte der Vereinskultur in Vergessenheit geraten.

Stuttgart - So wie er stürmte, so redet er: Ohne Schnörkel und direkt aufs Tor. „Ich mag hier nicht stundenlang Interviews geben“, warnt Ewald Lienen, 64, mit skeptischer Miene. Es werden dann doch noch zwei. Und weil die Worte beim Technischen Direktor des FC St. Pauli erheblich schneller fließen als die Elbe vor den Landungsbrücken, ersteht vor dem Zuhörer eine Fußballwelt, die weit mehr vermittelt als die üblichen Botschaften einer sich selbst genügenden Branche. „Soziale Verantwortung“, sagt er, „ist seit fast 30 Jahren fester Bestandteil der St.-Pauli-DNA.“

Es scheint, dass in Hamburgs Mitte jemand Anker geworfen hat, der mit seinen Ideen und Überzeugungen so ideal zum Selbstverständnis eines etwas anderen Fußballclubs passt wie der Jolly Roger zu dessen Fans. Seit ein gewisser Doc Mabuse im Stadion die Fahne mit dem Totenkopf schwang, weht nahe dem Heiligengeistfeld der Wind der Anarchie.

Gegen jede Konvention

Das war Anfang der Achtzigerjahre, als die Alternativen in der Hafenstraße die Häuser besetzten – und ein junger Bundesligaprofi aus Ostwestfalen gegen so ziemlich jede Konvention verstieß, die der Berufsfußball zu bieten hatte. Er warb für das Komitee gegen Berufsverbote, kandidierte bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für die Friedensliste und wetterte gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Als ihm der Bremer Norbert Siegmann mit den Stollen den Oberschenkel bis auf den Knochen aufschlitzte, startete der Rebell eine Kampagne wider die Brutalität im Fußball. Noch heute fährt Ewald Lienen aus der Haut, wenn die Hauptdarsteller der Branche gegen die Regeln verstoßen, die dem Spiel seine Berechtigung geben: Fair Play. „Wenn dann ein Reporter urteilt, dass es ein cleveres Foul war, fehlt mir jegliches Verständnis“, sagt Ewald Lienen und klatscht mit der flachen Hand empört auf den Tisch.

Natürlich kennt er die Gesetze des Geschäfts. Mit dem einen oder anderen hat er sich in all der Zeit arrangiert oder sogar versöhnt. Was aber nicht bedeutet, dass er die Sensoren einbüßte für Ungerechtigkeiten, Missstände, Fehlentwicklungen, für fehlende Toleranz und mangelnden Respekt. Lienen streicht es heraus, als sei es der Matchplan für das wichtigste Spiel der Saison: „Der FC St. Pauli fühlt sich mit verantwortlich für den Stadtteil in dem viele seiner Fans leben.“ Zwar gibt es noch den Kiez, die Reeperbahn, die Prostituierten und die breitschultrigen Sportsfreunde mit den Rasierklingen unterm Arm, die diesseits und jenseits der Herbertstraße den Verkehr regeln. Doch unaufhaltsam entwickelt sich St. Pauli auch zum angesagten Stadtteil mit teuren Lofts, schicken Schlitten und edlen Restaurants. Die üblichen Übertreibungen einer Wohlstandsgesellschaft eben. „Gegen solche Entwicklungen stemmen wir uns natürlich als Verein“, bestätigt der Mann, der mit dem alternativen Club zuletzt drei Jahre lang als Trainer die Untiefen der zweiten Liga umsegelte. Grundsätzlich habe der Stadtteil aber eine gute Entwicklung genommen. „Und das spiegelt sich in unserem Publikum wider.“

Sport als Schule der Demokratie

Er begreift den Fußball als gesellschaftliche Kraft, die Fundamentales bewirken könne. Er spricht vom Klimawandel, der die Menschheit bedrohe, von Altersarmut, von raffgierigen Vorständen und rücksichtlosen Bänkern – und vom Sport als ideale Schule für die Demokratie. „Es fehlen überall Schwimm- und Sporthallen, Bolzplätze. Das ist ein Armutszeugnis für ein so reiches Land“, ärgert sich Lienen und fordert: „Die tägliche Bewegungsstunde muss Pflicht in den Schulen werden.“ Wo sonst, wenn nicht im Sport in Schulen und Vereinen können Kinder und Jugendliche lernen, was eine freie Gesellschaft bedeutet? Dass es sich lohnt, ethische Werte zu verteidigen, Konflikte auszutragen und die Umwelt zu schützen? „Die Vereine brauchen in diesen Fragen viel mehr Hilfe aus der Politik,“ fordert der ehemalige Klassestürmer, „man kann nicht immer alle sozialen Probleme dem Ehrenamt hinschieben und sagen: Ihr macht das schon.“

Hinterm Stadion stehen neuerdings Bienenstöcke, St. Pauli verkauft (E)-Wald-B-(L)ienen-Honig. „Das ist kein Marketing-Gag“, wehrt er kritische Stimmen ab, „wir wollen was tun gegen das Insektensterben.“ Jedes Projekt ist auch ein politisches Statement. Der FC St. Pauli unterstützt Viva con Agua, eine weltweite Kampagne, mit initiiert von Benjamin Adrion, einem ehemaligen Spieler des VfB Stuttgart. Sie will Menschen den würdigen Zugang zu sauberem Trinkwasser ermöglichen In den Stadionkatakomben stellen Künstler aus: Udo Lindenberg hat eines seiner Bilder gegeben, auch Otto Waalkes. Eine Ausstellung beleuchtet den Verein im Dritten Reich. Den Fanladen betreiben Sozialarbeiter, die Kita im umgebauten Stadion heißt Piratennest. Die U 23 nennt sich Kiezkicker und anders als beim VfB kommt niemand auch nur im Traum auf die Idee, die zweite Mannschaft vom Spielbetrieb abzumelden. „Jede unserer Mannschaften ist wertvoll. Sie leben die Wertvorstellungen unseres Vereins und tragen sie nach außen“, erklärt Ewald Lienen. Auf den Rängen der Gegengerade prangt in dicken Lettern: „Kein Fußball den Faschisten.“ Und: „St. Pauli ist der Star.“ An den Eingangspforten zeugen Aufkleber von Haltungen: „Nazis aufs Maul!“ „Gegen Antisemitismus. Nein zu Rassismus!“ „Refugees welcome!“ Der FC St. Pauli, schrieb ein englisches Fußballmagazin, stehe für alles, was richtig ist. Nur nicht fürs Gewinnen.

Fußball wie er früher einmal war

Fans von der Insel schweben trotzdem immer mal wieder mit Charterflügen ein: Weil auf St. Pauli ist der Fußball noch so ist, wie er in England einmal war. Authentisch, laut, ein bisschen derb vielleicht, hart, fair – aber vor allem ohne das Schickimicki-Gehabe der postmodernen Flachpass-Unternehmen. Natürlich verlieren sie auch am Millerntor nicht gern, aber Siege um jeden Preis sind für den Mitglieder geführten Verein so tabu wie Investoren oder Sponsoren, die zur Kultur des 1910 gegründeten Clubs nicht passen. Die Vip-Logen sind rar und heißen „Sépareés“, die Sponsoren gestalten sie selbst. Eine bekannte Hamburger Werbeagentur bittet ihre Gäste in eine Kapelle. Die eindeutige Botschaft: Manchmal hilft eben nur noch glauben und beten. Oder ein Trainertausch: Anfang des Monats musste Olaf Janßen gehen, der frühere Karlsruher Coach Markus Kauczinski übernahm. Weil wieder mal der Abstieg drohte. Aber das alles passierte ziemlich unaufgeregt. So wie es der Technische Direktor eben mag.

„Die Grippe von Rudi Völler“, knurrte einst der friedensbewegte Lienen, „erzeugt mehr Aufmerksamkeit als Hochrüstung und Massenarbeitslosigkeit.“ Er stürmte für Arminia Bielefeld, Borussia Mönchengladbach und den MSV Duisburg. Als Coach arbeitete er für 14 Vereine im In- und Ausland. Aber nirgendwo sonst dürften seine Überzeugungen und Wertvorstellungen so deckungsgleich mit dem Arbeitgeber gewesen sein wie beim FC St. Pauli. Geschäftsführer Andreas Rettig und Ewald Lienen eint die Überzeugung, dass „Fußball auch anders geht“. Ohne aufgeblähte Wettbewerbe, ohne Raubtierkapitalismus, Fremdbestimmung durch Investoren – aber mit Rücksicht auf die Gesundheit der Spieler.

„Man muss nicht nur meckern oder Protest wählen“, sagt Ewald Lienen, „man muss den Arm heben und sagen: Ich will das so.“ Er mag nicht stundenlang Interviews geben. Er eilt jetzt zum nächsten Termin.

Er will das so.