Atmosphäre und Farben sind typisch Jeunet: Kyle Catlett als Wunderkind T. S. Spivet beim Aufbruch gen Washington Foto: DMC

Jean-Pierre Jeunet hat eine dreidimensionale Augenweide erschaffen, allerdings mit einer eher vorhersehbaren Geschichte. Ist in „Amélie“ eine kribbelnde Sehnsucht die treibende Kraft, ­beherrscht diesen durchaus besonderen Film der Drang nach filmischer Vollkommenheit.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Die Karte meiner Träume"

Maiskolben aus dieser Ansicht. Dann aus jener. In akribischer Feinarbeit zeichnet T. S. Spivet (Kyle Catlett ) eine Version des gelben Kolben nach der anderen in schwarzer Tusche. Er zählt die Blätter. Stellt Statistiken auf. Seine pubertierende Schwester sitzt daneben, verdreht die Augen und tut das, was andere Kinder auf einer Ranch im ländlichen Montana tun würden. Sie schält die Kolben, wirft die Blätter weg – fertig. Sie verbringt auch nicht jede freie Minute damit, Dinge zu erfinden. Oder damit, die Regelmäßigkeit in der Armbewegung des trinkenden Vaters zu berechnen. T. S. Spivet ist zehn Jahre alt und Wunderkind.

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Dann dieser Anruf. T. S. lässt den Hörer in den Blechmülleimer baumeln. Der Trick funktioniert, seine Stimme klingt dunkler, die Dame am anderen Ende nimmt ihm ab, dass er erwachsen ist. Er hat soeben den renommierten Baird-Preis gewonnen für seine neueste Erfindung: eine Art Perpetuum mobile. Kurzerhand reist er als blinder Passagier im Güterzug und einsamer Tramper quer durch die USA nach Washington D. C., um im großem Showdown den Preis entgegenzunehmen.

Erstmalig nutzt Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amélie“) die 3-D-Technik. Kleine Motten und feiner Präriestaub jagen dem staunenden Auge entgegen; die fliegenden, hebelnden Erfindungen des kleinen Genies schweben vor und hinter der Leinwand im Raum. Reif Larsens gleichnamiger Roman-Bestseller ist bestückt mit unzähligen Skizzen und kreativen Skurrilitäten. Kino-Fantast Jeunet hat nun mit farbenreichen Bildern und verspielten Details eine filmische Weide der Ästhetik geschaffen. Darin gibt es Raum für einen depressiven, metallfressenden Hund, für die gedankenverlorene Biologin und Mutter von T. S. (Helena Bonham Carter), die einen Toaster nach dem anderen durchbrennen lässt, oder für die Ziegen des Cowboy-Vaters (Callum Keith Rennie), die sich über die heiligen Rüsselkäfer der Mutter hermachen.

Auch wenn das Werk auf allen Ebenen mit Überraschungen aufwartet, so schwächelt es auf der vorhersehbaren Plot-Ebene und an Charakteren, die oft die Grenze zur Überzeichnung streifen. Die zu gehobene Sprache hinterlässt einen schalen Nachgeschmack, der oft entsteht, wenn Erwachsene in ihren Drehbüchern Kindern Worte in den Mund legen. Der Film zeigt, dass selbst noch so bunte Bilder den Graben zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt nicht zu überbrücken vermögen. Ist in „Amélie“ eine kribbelnde Sehnsucht die treibende Kraft, beherrscht diesen durchaus besonderen Film der Drang nach filmischer Vollkommenheit. Das ist nicht so charmant-schrullig wie der „Amélie“-Film in seiner perfekten Unperfektheit. Dennoch setzt Jeunet Maßstäbe in Sachen Stereoskopie. Nicht zuletzt der Abspann ist ein Kunstwerk für sich.

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