Roderich Kiesewetter (CDU), Obmann der Union im Auswärtigen Ausschuss, vertritt im Bundestag den Wahlkreis Aalen. Foto: Bundestag

Nach dem Rückzug der USA und Russlands aus dem INF-Vertrag regt der CDU-Außenpolitiker Kiesewetter vertrauensbildende Maßnahmen an, um ein neues Wettrüsten in Europa abzuwenden.

Stuttgart - Russland solle seine neuen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht erreichen, haben die Außenpolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) und Rolf Mützenich (SPD) in einer gemeinsamen Initiative angeregt. Die Antwort aus Moskau kam schnell und war eindeutig ablehnend. Dennoch ist der Aalener Bundestagsabgeordnete Kiesewetter zufrieden.

Herr Kiesewetter, glauben Sie, dass der INF-Vertrag über landgestützte atomaren Mittelstreckenraketen nach dem Rückzug Russlands und der USA in absehbarer Zukunft wieder in Kraft gesetzt wird?

Ganz offen, nein. Ich halte es für nicht wahrscheinlich, weil die Entwicklung außerhalb Russlands und der USA in den letzten 30 Jahren weitergegangen ist: Auch China, Indien, Pakistan und Nordkorea haben nukleare Mittelstreckenraketen. Der Iran hat welche, die nicht nuklear bestückt sind. Den Russen und Amerikanern geht es heute um ihre weltweiten Sicherheitsinteressen. Entscheidend ist daher die Frage, ob es Sonderregelungen für uns Europäer gibt und wie die Zeit nach dem INF-Vertrag aussieht, damit es keine Abkopplung der europäischen von der amerikanischen Sicherheit gibt.

Gemeinsam mit Rolf Mützenich (SPD) haben sie als vertrauensbildende Maßnahme vorgeschlagen, dass die Russen ihre neuen Marschflugkörper auf die andere Seite des Urals verlegen. Im Gegenzug sollen die USA ihre in Rumänien stationierten Abschussanlagen von Russland inspizieren lassen. Sind Sie enttäuscht von der negativen Reaktion aus Moskau?

Nein, im Gegenteil. Ich freue mich sogar, dass das auf große Resonanz gestoßen ist. Es hat gezeigt, dass unsere Vorschläge gehört wurden. Die Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses der Duma haben sich zwar sehr ablehnend geäußert, aber sie nehmen unseren Vorschlag ernst. So ist es zumindest indirekt gelungen, dass wir in einen Dialog einsteigen, wenn auch erst mal über die Medien. Wir Parlamentarier haben die besondere Aufgabe, den Dialog nicht abreißen zu lassen.

Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wladimir Schamanow, hat Ihren Vorschlag als „taktlos und empörend“ sowie „aussichtslos“ zurückgewiesen. Sie sollten lieber versuchen, Einfluss auf die USA zu nehmen. Was antworten Sie ihm?

Aus unserer Sicht liegt der Ball bei Russland. Es waren Putin und Lawrow, die 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt haben: Der INF-Vertrag sei ein Überbleibsel des Kalten Kriegs und kritisierten, er sei nicht „universell“ gültig. Dann wurde durch die Destabilisierung Georgiens dieses schwierige Thema nicht mehr zwischen den USA und Russland verfolgt, sondern es stand das Krisenmanagement im Fokus. 2014 hat Washington handfeste Erkenntnisse gehabt, dass Russland offensichtlich ein eigenes Mittelstreckenraketen-System entwickelt und dies fortan öffentlich vorgeworfen. Bis März 2018 wurden Moskau 30 Gesprächsangebote gemacht, die aber alle abgelehnt wurden – bis die USA die Russen mit weiteren nachrichtendienstlichen Erkenntnissen konfrontiert haben. Dann haben sie im Frühjahr 2018 eingeräumt, dieses System zu haben, behaupten aber, dass es weniger als 500 Kilometer fliegt. Wir bezweifeln das. Ein Land mit einem Haufen Problemen wie Russland kann es sich nicht leisten, zwei Systeme unter 500 Kilometern vorzuhalten. Entweder ist das alte ausgephast, und dann hat es ein neues – oder die Reichweite ist deutlich größer. Kenner sagen: bis 2500 Kilometer. Insofern sehen wir die Beweislast jetzt bei Russland.

Somit hat in Ihren Augen allein Russland den INF-Vertrag verletzt?

Der Vorwurf lautet, dass die USA den Vertrag durch Drohnen verletzt haben. Diese kommen aber im Vertrag nicht vor. Zudem haben sich die Amerikaner sehr viel Mühe gegeben, den Vorwurf auszuräumen, dass die in Rumänien und vom nächsten Jahr an auch in Polen stationierten Raketenabwehrsysteme auf Landziele mittels Tomahawk-Marschflugkörpern gerichtet sind. Da könnte die amerikanische Seite Inspektionen anbieten, haben Mützenich und ich vorgeschlagen, sofern die Russen ihrerseits bereit für einen ehrlichen Dialog mit dem Ziel vollständiger Transparenz sind. Mir ist wichtig zu betonen, dass nach wie vor die Russen zur vollständigen Abrüstung gedrängt werden müssen. Sollte es jedoch zu Neuverhandlungen für einen multilateralisierten Mittelstreckenraketenvertrag kommen, der etwa diese Waffensysteme bis zu einer Obergrenze akzeptiert, darf Europa nicht in Reichweite russischer Mittelstreckenraketen liegen. Nur dann wären wir in Europa sicher und könnten weiterhin auf solche Waffensysteme verzichten. Es ist völlig unrealistisch anzunehmen, dass durch eine globale Abrüstungsinitiative initiierte Verhandlungen zu solch einem multilateralen Vertrag mit China, Pakistan und anderen ein komplettes Verbot dieser Waffengattung erreicht werden könnte.

Ist mit der Kündigung des INF-Vertrags auch das START-Abkommen über die Reduzierung strategischer Trägersysteme von Nuklearwaffen in Gefahr?

Das ist aus meiner Sicht in Gefahr. Hier sollten wir Europäer intensiv darauf achten, dass wir im Bereich der ballistischen Raketen nicht auch eine Aufkündigung haben, weil diese zu einem nuklearen Wettrüsten führen würde und in die 1970er Jahre zurückwerfen würde.

„Russland will unsere Gesellschaft spalten“

Ist ein atomares Gleichgewicht, durch seegestützte Raketen etwa, nicht gewährleistet?

Die Nato hat in Europa etwa 150 bis 180 stationierte Atomsprengköpfe . Die stehen etwa 1700 russischen taktischen Atomwaffen gegenüber und das neue Mittelstreckensystem SSC-8 erweitert qualitativ das taktische Atomarsenal. Der große Vorteil für Russland ist, dass landgestützte Systeme über Nacht per Zug verlegbar sind. Innerhalb von bis zu zehn Stunden sind sie hunderte Kilometer entfernt – das schafft man mit keinem Schiff. Und bei Flugzeugen kann man sehr genau die Luftbewegungen verfolgen, die damit leicht aufklärbar sind. Die seegestützten Raketen sind daher lediglich eine Ausweichmöglichkeit.

Wie kann man der Angst vor einem neuen Rüstungswettlauf begegnen?

Es kommt auf eine kluge Reaktion an, weil es aus meiner Sicht nichts bringt, in eine plumpe Nachrüstungsdebatte zu fallen, die die Gesellschaft spaltet. Das will Russland ja gerade, dass diese jetzt bei den Ostermärschen und den Europawahlen hochkocht. Insofern bin ich sehr froh, dass die Nato sehr besonnen reagiert. Man sollte nun zwei Fehler nicht machen: von vorneherein alles auszuschließen. Diesen Fehler hat unser Außenminister gemacht, weil er eine mögliche Nachrüstung – die keiner von uns will – ausgeschlossen hat. Das nimmt uns ein Verhandlungspfand. Und zweitens sollten wir ganz arg darauf achten, dass Polen nicht die Phalanx der Nato-Staaten durchbricht und versucht, mit den USA ein Sonderabkommen zur Stationierung von Nuklearwaffen zu erhalten. Dies würde die Nato-Russland-Grundakte als letzte diplomatische Instanz auf Dauer zerstören. Wir Deutschen müssen an der nuklearen Teilhabe festhalten und dadurch verhindern, dass sich Nuklearwaffen in Europa ausbreiten.

Sie sind immer wieder in Moskau. Ist es das vornehmliche Ziel von Putin, Europa über eigene militärische Macht zu spalten?

Nicht nur mit militärischer Macht. Er versucht dies mit einem Bündel verschiedener Maßnahmen: mit Destabilisierung wie in der Ukraine, mit Falschinformationen über all die regierungsnahen Sender in Europa und mit finanzieller Unterstützung wie an den Front National. Den Russen ist doch folgendes gelungen: Sie fügen über Jahre schweigend ein neues System ein, aber die Amerikaner sind jetzt durch ihren Ausstieg aus INF in der Weltöffentlichkeit der Beelzebub. Ich glaube nicht, dass Putin in der Lage ist, ein Wettrüsten mitzuhalten Sein Hauptmittel ist die Kommunikation falscher Tatsachen.

Welche Erwartungen haben Sie diesbezüglich an die Sicherheitskonferenz?

Aus den USA wollen neben Vize-Präsident Pence etwa 30 Kongressabgeordnete, viele Europa-Freunde, nach München reisen. Da kommt es auf deren Erwartung an uns an, was wir tun können, damit das transatlantische Verhältnis stabil und zukunftsfest bleibt. Für uns Europäer ist es vorrangig zu überlegen: Was können wir tun, damit wir nicht Spielball zwischen den USA und Russland werden. Wir dürfen erstens nicht erpressbar sein und Europa zweitens nicht von den USA abkoppeln. Drittens müssen wir auch mögliche Abwehrmaßnahmen ausloten. Dann kommt vielleicht kein neuer INF-Vertrag dabei heraus, aber ein Rüstungskontrollsystem, das trotz Scheiterns des Vertrags das Risiko der Eskalation einhegt und nicht weiteres Vertrauen zerstört.