Eine Mauer aus Beton soll Regierungsbauten nahe des Tahrir-Platzes vor Demonstranten schützen Foto: Edition Esefeld & Traub

Die ägyptische Hauptstadt hat viele Namen. Umm ad-Dunia – Mutter der Welt – ist einer davon. Eine Liebeserklärung. Wie das Buch „Mein Kairo“ von Jörg Armbruster und Suleiman Taufiq.

Stuttgart - Als der langjährige Nahost-Korrespondent Jörg Armbruster Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal beruflich nach Kairo kommt, fühlt er sich erschlagen von der Millionenmetropole. Drei Stunden lang irrt er durch ein Labyrinth staubiger Gassen. Dann geschieht etwas, das seine Beziehung zu Kairo für immer prägen wird: „Ein kleines Mädchen nahm mich an der Hand und führte mich zur nächsten größeren Straße, wo ich ein Taxi fand“, sagt Armbruster.

Es ist die liebenswürdige Seite des Molochs Kairo, der Armbruster in Gestalt des Kinds begegnet. Sie wird ihn noch oft verblüffen, zum Beispiel als nach der Revolution 2011 überall im Land über Demokratie und die Zukunft des ägyptischen Staates diskutiert wird, in jedem Taxi, in jedem Café.

Jetzt verzeiht er Kairo alles: Den Krach, der selbst nachts Tote wecken könnte, den ewigen Stau, der die Straßen verstopft, die Hitze. „Es ist mein Kairo“, sagt Armbruster, und so heißt auch der Titel eines Buchs, das der Journalist mit herausgegeben hat: „Mein Kairo“.

Rund 60 Autoren haben sich an dem wuchtigen Band beteiligt, der im Stuttgarter Verlag Edition Esefeld & Traub erschienen ist. Es schreiben Journalisten, Architekten, Archäologen und Dichter, teils Deutsche, teils Ägypter. Sie alle eint, dass sie eine persönliche Beziehung zu Kairo haben, weil sie die Stadt besucht oder in ihr gelebt haben.

In kurzen Episoden erzählen sie von ihren Erlebnissen, von Begegnungen mit Menschen, die stellvertretend für die geschätzten 16 Millionen Einwohner der Stadt stehen. Der Band ist dreisprachig: Deutsch, Arabisch und Englisch. Fotografien von Hala Elkoussy und Barbara Armbruster, der Ehefrau von Jörg Armbruster, illustrieren den Band. „Meine Frau hat sich in Ecken vorgewagt, in die ich nie vorgestoßen bin“, sagt er.

Während ihr Mann arbeitet, unternimmt Barbara Armbruster ausgedehnte Fußmärsche in die Quartiere, die im ägyptischen Volksmund Schabi –„volkstümlich“ – genannt werden. Es sind die einfachen Viertel, in denen die Menschen dicht gedrängt in großen unverputzten Mietshäusern wohnen.

Die Künstlerin will kein Fremdkörper bleiben. Sie geht auf die Menschen zu, gewinnt ihr Vertrauen, erfährt, dass selbst arme Familien einen Bereich ihrer Wohnung als Empfangsraum für Gäste vorhalten, der besonders schön eingerichtet wird, und sei er noch so klein.

Mit ihren Fotos dringt sie in die zahllosen Sackgassen vor, die wie Hinterhöfe halb im öffentlichen, halb im privaten Bereich der Menschen liegen. In „Mein Kairo“ findet man keine Bilder von den Pyramiden, vom Basar Khan al-Khalili oder dem Ägyptischen Museum. Barbara Armbruster will wissen, was die ägyptische Gesellschaft zusammenhält und wie sie funktioniert. Sie macht selten Porträtaufnahmen, aber viele Fotos zeigen Details, die man als Tourist nicht beachtet.

Die Verkaufsstellen für subventioniertes Brot zum Beispiel: Unscheinbare kleine Ladenfenster, vergittert zum Schutz vor allzu stürmischem Andrang, dort stapeln sich die Brotfladen auf flachen Holzgerüsten, die oft auf dem Kopf balancierend von Fahrradboten ausgeliefert werden. Aisch – der ägyptische Name für Brot – bedeutet nichts weniger als „Leben“.

Manchmal wird sie von Polizisten zurückgehalten. Sie solle nur die schönen Seiten Ägyptens fotografieren, sagt man ihr. Für schwierige Aufnahmen hat sie ein Teleobjektiv: Zwei junge Männer, die auf der Straße bunte Pappnasen verkaufen, haben sich die Masken selbst aufgesetzt, um Kunden anzulocken. Als sie sich unbeobachtet fühlen, machen sie ernste Gesichter – ein grotesker Anblick. Es ist wie mit dem berühmten ägyptischen Humor, den Jörg Armbruster so liebt: Eigentlich haben die meisten Ägypter nichts zu lachen, dass sie es trotzdem tun, lässt sie ertragen, was kaum zu ertragen ist.

„Mein Kairo“ ist aber auch ein Zeugnis der Veränderungen, die die Stadt im Laufe der Revolution durchgemacht hat. Jörg Armbruster ist wichtig, dass man es Revolution nennt, auch wenn das Land wieder in eine Militärdiktatur zurückgefallen ist. „Gab es schon einmal eine Revolution, die auf Anhieb ein gutes Ende genommen hat?“, fragt er.

Bilder von Graffiti spiegeln die Geschehnisse auf dem Tahrir-Platz wider: die Kämpfe zwischen militanten Fußballfans und Schlägern des Regimes, aufkeimendes Selbstbewusstsein von Homosexuellen und Frauen – und gezielte Angriffe gegen sie.

Im Moment des Rücktritts von Langzeitherrscher Hosni Mubarak ist Armbruster live auf Sendung in der „Tagesschau“. Hunderttausende tanzen auf den Straßen. Er stolpert mit dem Kameramann auf den Balkon des ARD-Studios im 13. Stock eines Hochhauses. Er kann kaum fassen, was sich da vor seinen Augen abspielt. „Ich war hingerissen“, sagt er heute über diesen dramatischen Januar 2011.

Und jetzt? – Viele seiner Bekannten sind im Gefängnis, haben Ägypten verlassen oder sind untergetaucht. Vorbei ist die magische Stimmung, in der jeder Gemüsehändler öffentlich darüber schwadronieren konnte, was die beste Staatsform für Ägypten sei. Und die Menschen sind des Demonstrierens müde. Die Unruhe nach der Revolution hat den Touristenstrom versiegen lassen, die wichtigste Einnahmequelle des Landes, an der unzählige Jobs hängen.

All das findet man in „Mein Kairo“, einem Prisma, das die Facetten der Stadt in einer Weise wiedergibt, wie es kein Reiseführer kann. Ein guter Ausgangspunkt, um eine eigene Beziehung zu der Stadt am Nil zu beginnen. Wer Kairo kennt, fühlt sich beim Lesen unmittelbar in die Metropole versetzt.