Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer war am Dienstag bei Markus Lanz zu Gast, um über Wohnungsmangel zu reden. Foto: dpa/Silas Stein

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hält im ZDF-Talk die Baubürokratie für „irre“ und schildert die Not von Mietern.

So richtig drängend scheint ZDF-Moderator Markus Lanz das von ihm für den Dienstagabend gesetzte Thema Wohnungsmangel nicht empfunden zu haben. Die Sendezeit dafür schrumpfte auf 30 Minuten zusammen, weil Lanz zunächst mal weitschweifige Basisaufklärung über die Trump-Prozesse in den USA von der Ex-US-Korrespondentin Rieke Havertz („Zeit-Online“) einforderte und dann noch das FDP-Zwölf-Punkte-Papier – ein „Scheidungspapier“ für die Ampel?, wohl eher nicht – erörtern ließ.

Immerhin spielte bei diesem Vorgeplänkel das Wohnungsthema schon etwas hinein, in dem die Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) daraufhin hinwies, dass das FDP-Papier kaum von Belang sei und einfach „abgeheftet“ werde könne. Im übrigen könne die FDP ja gerne an der gesetzlichen Rente drehen, denn deren Wähler seien auf die ja nicht unbedingt angewiesen, weil sie „fünf Häuser und daraus Mieteinnahmen“ haben. Andere aber hätten das nicht.

Palmer findet FDP-Punkte gut

Boris Palmer, Ex-Grünen-Politiker vom Realo-Flügel und seit 17 Jahren Oberbürgermeister von Tübingen, fand hingegen „persönlich“ zehn der zwölf FDP-Punkte ganz in Ordnung, wenn er sie mit den Problemen überschneide, die ihm Unternehmer in seiner Stadt schilderten.

Vor allem die Abschaffung der Rente mit 63 Jahren sei sinnvoll, das habe es ja vor zehn Jahren auch nicht gegeben. Dass man gesundheitlich top-fitte, hoch qualifizierte Leute mit 63 Jahren in die Rente gehen lasse, das verstehe er nicht. „Uns fehlen 250.000 Fachkräfte und da lässt man die gehen?“ Gerade für die mittelständischen Unternehmen in Tübingen sei der Fach- und Arbeitskräftemangel neben dem „Bürokratiegestrüpp“ das Hauptproblem: „Uns brennt der Kittel!“

Warteliste mit 1.500 Personen

Der Kittel brennt in den Städten aber auch bei den Wohnungssuchenden. Für Krankenschwestern, Feuerwehrleute und Polizisten ist Wohnraum in den Städten kaum bezahlbar – so der allgemeine Tenor. Für Studierende sind Unistädte wie München, Freiburg oder Tübingen unerschwinglich.

Auch da war es Palmer, der mit einem drastischen Beispiel die Lage skizzierte: Da habe er eine 70-Jährige aus Tübingen kennen gelernt, die noch gearbeitet habe, um ihre Miete in Tübingen zu finanzieren. Nachdem der Arbeitgeber sie in Rente schicken wollte, sei die Frau unter Druck: „Sie wird irgendwo in die Peripherie ziehen müssen, ich sage nicht wohin, sonst kriege ich wieder Ärger.“ Aber dass ein Mensch nach 50 Jahren seinen Lebensmittelschwerpunkt in einer Stadt wie Tübingen verlassen muss, weil die Miete zu hoch sei, das sei untragbar. Und noch ein Beispiel brachte der Bürgermeister vor: Tübingen habe 1.500 Sozialwohnungen, jedes Jahr werden rund 100 neu vergeben, aber auf der Warteliste stünden 1.500 Personen: „Das heißt, die Leute warten 15 Jahre auf eine Wohnung.“

Leerstände gibt es auch

Die Bau- und Wohnungsministerin Geywitz wies auf die derzeitige Baukrise hin und bejahte die Frage von Lanz, ob in diesem Jahr vielleicht sogar noch weniger Wohnungen fertig gestellt werden als im vergangenen. Es gebe Prognosen, dass es Ende der 30er Jahre wieder etwas „hübscher“ aussehe, so Geywitz. „Es wird zu langsam und zu teuer gebaut. Das Problem sind die steigenden Mieten. Grundstückspreise und Kaufpreise lassen ja wieder leicht nach.“ Aber neu fertig gestellte Wohnungen mit Quadratmetermietpreisen von 17 Euro – Palmer sprach gar von 20 Euro – könne sich weder eine Krankenschwester noch ein Polizist leisten. Bei ihnen sei bei sechs, sieben oder acht Euro das Ende der Fahnenstange.

Geywitz verwies auf die große Wohngeldreform, mit der die Regierung den Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert habe und auf das Ankurbeln des sozialen Wohnungsbaus, der jetzt schneller wachse als der freie Wohnungsbau. Von den drei Millionen Sozialwohnungen, die es vor 20 Jahre in Deutschland gab, seien heute nur noch eine Million übrig. Geywitz schilderte die Fehlannahme der Politik vor 20 Jahren, dass man einen entspannten Wohnungsmarkt habe und keine Neubauten brauche. Leerstände in Ostdeutschland waren damals vorhanden, aber es gebe sie auch heute noch, beispielsweise in Sachsen-Anhalt (15 bis 20 Prozent), aber auch in Städten wie Chemnitz oder im bayerischen Hof. Mit besseren Verkehrsanbindungen könnten die Wohnprobleme teilweise durch Pendelei behoben werden, so die Ministerin. Hoffnung machten auch neue architektonische Konzept wie der Bau von 90-Quadratmeter-Häusern für ältere Ehepaare, die große Einfamilienhäuser nutzten, obwohl die Kinder längst ausgezogen sind. Nach dem Krieg habe laut Statistik eine Person 25 Quadratmeter Wohnfläche genutzt, heute seien es 45 Quadratmeter pro Person.

Sozialer Sprengstoff: Wohnungsmangel

Boris Palmer hingegen war der Meinung, man benötige jetzt ein „größeres Kaliber“ um mehr preiswerten Wohnraum zu schaffen. Mit Russland habe man ja eine äußere Bedrohung, mit dem Wohnproblem aber bald eine innere Bedrohung, die sozialen Sprengstoff berge: Man brauche für die Kommunen und städtische Wohnungsbaugesellschaft ein Sondervermögen des Bundes über 100 Milliarden Euro, denn denen fehle das Eigenkapital zum Wohnungsbau.

Emotional wurde Boris Palmer dann beim Thema Baubürokratie. Diese sei so schlimm geworden, dass seine Leute im Baurechtsamt die ständigen Gesetzesnovellen kaum noch überblicken würden, im übrigen widersprächen die Gesetze sich manchmal. Er wolle mal plastisch machen, was ihn „in den Wahnsinn“ treibe, sagte Palmer und berichtete von einem geplanten Neubau fürs Tübinger Uni-Klinikum auf dem Schnarrenberg, der durch den Fund eines auf dem Dach nistenden Ziegenmelkers gestoppt worden sei. Der Vogel sei letztes Jahr gar nicht mehr da gewesen, trotzdem erwarteten die Naturschutzbehörden jetzt, dass man ein „Ziegenmelker-Erwartungsland“ für das Tier ausweise und in der Nähe – mitten in Tübingen - zehn Hektar Wald für den Ziegenmelker rode, damit er sich da niederlasse. „Das ist doch irre. Da kriege ich doch einen Vogel“, so Palmer. Der Landrat, der Regierungspräsident und der Ministerpräsident befassten sich schon mit dem Thema. Er würde diesen Vogel im übrigen gerne „der Katze“ gönnen.

„Ihr Piepmatz“, sagt die Ministerin

Ministerin Geywitz bemerkte, dass sie nicht der Meinung sei, dass ein Herr Palmer darüber entscheide, „wer als Vogel leben darf“, dafür gebe es Listen. Aber noch in dieser Legislaturperiode wolle sie ein Gesetz vorlegen, wonach Ausgleichsmaßnahmen für den Naturschutz auch gebündelt fernab der teuren Städte angelegt werden können: Da poole man dann den Ersatz von beispielsweise 100 Baumaßnahmen, schaffe Moore, renaturiere Flüsse. Geywitz sagte an Palmer: „Ich glaube auch nicht, dass Ihr Piepmatz sich da in dem abgeholzten Wald niederlassen wird.“ Insofern endete die Runde in einem harmonischen Konsens.