„rahmenlos & frei“ – der Vesperkirchen-Chor bei der Nacht der Lieder im Theaterhaus Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Wie Stuttgart Menschen verzaubern kann. Lokalchef Jan Sellner über die magische Momente in der Feinstaub-geplagten Landeshauptstadt

Stuttgart - Zu Stuttgart fällt einem vieles ein: Magie gehört in der Regel nicht dazu. Gewiss gibt einem diese Stadt bisweilen Rätsel auf, und klar gibt’s für Magie, wie für fast alles, Spezialisten. Im Falle Stuttgarts Thorsten Strotmann mit seiner „Magic Lounge“ im Römerkastell, angeblich „die magischste Location“ der Stadt. Doch bei allem Respekt vor solcher Virtuosität – diese Art Zauber ist hier nicht gemeint.

Vielmehr geht es um Magie im Sinne zauberhafter Momente, um Situationen, die Menschen bewegen. Daran besteht in Stuttgart offenbar Mangel. Zu viel Feinstaub liegt in der Luft, zu viel Geschäftigkeit herrscht in der City und zu viel Hektik – der Magiekiller Nummer eins. Killer Nummer zwei ist übrigens die Bräsigkeit.

Eine glitzernde Stadt, mit viel Geld, aber ohne Magie . . . Doch dann tritt Reid Anderson, der Stuttgarter Ballettintendant, auf und spricht beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung Anfang der Woche in der Liederhalle von „magischen Momenten“, die er in Stuttgart erlebt. Er beschreibt die Entwicklung, die auffallend viele Absolventen der John-Cranko-Schule nehmen – vom Talent zum Ballettstar. Und er sagt: „Das ist magisch.“

Kunst schafft zauberhafte Momente

Tatsächlich ist es die Kunst, die zauberhafte Momente erschafft: die Tanzkunst, die in Stuttgart auf besondere, am Vorbild John Cranko orientierte Weise gepflegt wird. Aber auch viele andere Kunstgattungen bis hin zur Fußballkunst. Die Älteren erinnern sich an das „magische Dreieck“ aus Krassimir Balakov, Giovanne Elber und Fredi Bobic, die in den neunziger Jahren die Fußballwelt verzauberten. Weder vorher noch hinterher wurde in Stuttgart mehr über Magie gesprochen.

Ein Ereignis der vergangenen Tage oder vielmehr Nächte bietet Anlass, das mal wieder zu tun. Die „Nacht der Lieder“ zugunsten der Aktion Weihnachten am 5. und 6. Dezember im Theaterhaus, komponiert von Kolumnist Joe Bauer, hielt eine Reihe magische Momente bereit. Emotionaler Höhepunkt an beiden Abenden war der Auftritt des Vesperkirchen-Chors aus der Leonhardskirche, der sich „rahmenlos & frei“ nennt. Seit sieben Jahren gibt er Menschen eine Stimme und einen Resonanzraum, die sonst wenig gehört werden. Schöne verkehrte Welt.

Unverstellte Stimmen

Von Empathie wird viel gesprochen, im Theaterhaus konnte man hören, wie sie klingt. Auf bewegende Weise trugen die etwa 20 Sängerinnen und Sänger Leonhard Cohens „Hallelujah“ vor. Und der Beatles-Sing „With a little Help from my Friends“ klang aus den Kehlen der Chormitglieder wie eine aufrüttelnde Solidaritätsbekundung. Respektvoll gebündelt wurden diese unverstellten Stimmen von Patrick Popp alias Memphis von der A-cappella-Formation Die Füenf. Für diesen magischen Moment spendeten die 1800 Zuhörer an beiden Abenden Beifall im Stehen. Sie waren verzaubert, mindestens aber berührt. Am 25. Februar ist der Chor in der Leonhardskirche zu hören.

Magische Momente – es gibt sie auch im Feinstaub-geplagten Stuttgart. Man muss nur offen dafür sein. Bei der Stunde der Kirchenmusik in der Stiftskirche etwa oder beim Weltweihnachtscircus auf dem Wasen oder, wie am Freitagabend, beim Abschiedskonzert der jungen Esslinger Liedermacher-Kombo „Mal Zwischendurch“. Und es wäre ein Wunder, wenn von der (ausverkauften) Matinee der John-Cranko-Schule und des Stuttgarter Balletts für die Aktion Weihnachten an diesem Sonntag kein Zauber ausginge.

jan.sellner@stzn.de