Bewaffnete Gruppen stürmten das Gefängnis in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Foto: dpa/Odelyn Joseph

Nachdem bewaffnete Gruppen in der Nacht zum Sonntag ein Gefängnis in Port-au-Prince gestürmt haben und tausende Insassen flüchten konnten, ruft Haiti einen Ausnahmezustand mit nächtlicher Ausgangssperre aus.

Wegen der Eskalation der Bandengewalt in Haiti hat die Regierung den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre für die Hauptstadt Port-au-Prince und deren Umgebung verhängt. Mit den am Sonntag (Ortszeit) angeordneten Maßnahmen reagierte die Regierung des Karibikstaates auf die Erstürmung eines Gefängnisses in der Hauptstadt Port-au-Prince durch kriminelle Banden, bei der am Samstag tausende Häftlinge entkommen waren. Rivalisierende bewaffnete Gruppen kämpfen offenbar gemeinsam für den Rücktritt von Regierungschef Ariel Henry.

Der nun verhängte Ausnahmezustand soll laut der Anordnung der Regierung zunächst für 72 Stunden gelten und kann verlängert werden. Die Ausgangssperre in der Region Ouest, zu der auch Port-au-Prince gehört, trat am Sonntagabend in Kraft und soll von Montag bis Mittwoch jeweils von 18.00 Uhr bis 5.00 Uhr dauern.

Ausnahmezustand soll zunächst für 72 Stunden gelten

Die Sicherheitskräfte hätten den „Befehl erhalten, alle ihnen zur Verfügung stehenden legalen Mittel zu nutzen, um die Ausgangssperre durchzusetzen und die festzunehmen, die sie verletzen“, erklärte die Regierung. Dies solle es ihr ermöglichen, „die Kontrolle über die Lage wieder zurück zu erhalten“.

Zuvor hatten in der Nacht zum Sonntag kriminelle Banden das Nationalgefängnis in Port-au-Prince erstürmt. Der Leiter des nationalen Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte, Pierre Espérance, sagte am Sonntag: „Wir haben viele Leichen von Häftlingen gezählt.“ Offenbar nutzten tausende andere Häftlinge den Überfall zum Ausbruch. Vor dem Angriff seien rund 3800 Häftlinge in dem Gefängnis inhaftiert gewesen, sagte Espérance. Am Sonntag seien es nur noch rund hundert gewesen.

Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP, der die Haftanstalt am Sonntag besuchte, sah vor dem Gebäude etwa ein Dutzend Leichen, einige mit Schusswunden. In dem Gefängnis waren demnach fast keine Menschen zu sehen. Laut Polizei wurde zudem das Croix-des-Bouquets-Gefängnis erstürmt. Wie viele der dortigen rund 1450 Insassen dabei ausbrechen konnten, sei unklar, sagte Espérance.

Bekannte Bandenchefs im Nationalgefängnis inhaftiert

Die Zeitung „Le Nouvelliste“ berichtete, im Nationalgefängnis seien auch bekannte Bandenchefs inhaftiert gewesen sowie Häftlinge, die im Zusammenhang mit dem Mord an Staatschef Jovenel Moïse verurteilt worden seien. Zur Vorbereitung der Erstürmung sei das Gefängnis seit Donnerstag mit Drohnen ausspioniert worden.

Die jüngsten Angriffe sind offenbar Teil einer koordinierten Aktion krimineller Banden, die sich unter dem Namen „Vivre Ensemble“ (“Zusammen leben“) zusammengeschlossen haben. Die Gewalt hatte am Donnerstag begonnen. Der mächtige Bandenchef Jimmy „Barbecue“ Chérisier sagte in einem in Online-Netzwerken veröffentlichten Video, dass die gemeinsamen Aktionen rivalisierender bewaffneter Gruppen auf den Rücktritt von Regierungschef Henry abzielten.

Der Karibikstaat Haiti steckt seit Jahren in einer schweren Krise, zu der neben Bandengewalt auch politische Instabilität und wirtschaftliche Not gehören. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen in dem Land nach UN-Angaben verdoppelt.

Die Ermordung von Präsident Moïse im Jahr 2021 verschlimmerte die Sicherheitslage dramatisch. Allein im Januar wurden nach UN-Angaben in Haiti mehr als 1100 Menschen getötet, verletzt oder entführt. Die kriminellen Banden im Land sind anscheinend besser bewaffnet als die Polizei.

Der haitianische Präsidentschaftsposten ist vakant

Seit 2016 gab es keine Wahlen mehr in dem Karibikstaat. Der Posten des Präsidenten ist vakant. Erst vor wenigen Tagen unterzeichnete Haitis Regierungschef Henry mit Kenias Präsident William Ruto ein Abkommen über den Einsatz von kenianischen Polizeikräften in Haiti. Kenia hatte sich bereit erklärt, eine multinationale vom UN-Sicherheitsrat gebilligte Eingreiftruppe zu leiten, um die Lage in Haiti zu stabilisieren. Nairobi will zu diesem Zweck tausend Sicherheitskräfte entsenden.

Ob Regierungschef Henry am Sonntag bereits aus Kenia zurückgekehrt war, war unklar. Die Verhängung des Ausnahmezustands unterzeichnete Wirtschafts- und Finanzminister Michel Boisvert als sein Stellvertreter.