„Das Sicherheitsgefühl der Jüdinnen und Juden ist nachhaltig erschüttert“, sagte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). Foto: dpa/Marijan Murat

Anfeindungen gegen Juden gehören in Baden-Württemberg weiter zum Alltag. Und es zeigt sich, dass die sinkende Gewalt nach einem kurzen Rückgang wieder zulegt. Nicht alle Taten gehen auf deutsche Konten.

Es wird gehetzt und beleidigt, es werden israelische Flaggen verbrannt und es werden Wände mit Parolen beschmiert. Und das fast jeden Tag irgendwo in Baden-Württemberg. Denn allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres sind 184 antisemitische Straftaten registriert worden, das sind etwas mehr als in den ersten drei Quartalen des Vorjahres (175). Und die Zahl dürfte deutlich steigen, denn die Proteste nach dem Massaker der islamistischen Hamas in Israel am 7. Oktober sind in der Statistik noch nicht enthalten. Es zeichne sich in Baden-Württemberg ein Anstieg antisemitischer Straftaten ab, teilte das Innenministerium auf Anfrage mit.

Das zeigt bereits ein kurzer Blick zurück: Mitte November belegt der Fußball-Bundesligist VfB Stuttgart zwei Zuschauer wegen rassistischer und antisemitischer Beleidigungen mit einem Stadionverbot. Wenige Tage zuvor werden antisemitische Farbschmierereien an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen und auf Stufen zur dortigen Burg entdeckt, Unbekannte beschmieren zudem die Rückseite des Rastatter Schlosses in roter Sprühfarbe mit Parolen, auch Hauswänden in Ludwigsburg werden besprüht. Allein in den drei Wochen nach dem Hamas-Überfall werden laut Landeskriminalamt rund 30 Straftaten in Verbindung mit Israel-Flaggen registriert.

Sicherheitsgefühl der Jüdinnen und Juden erschüttert

„Das Sicherheitsgefühl der Jüdinnen und Juden ist nachhaltig erschüttert“, sagte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Hamas und den Demonstrationen gegen Israel. „Es ist unerträglich, wenn jüdische Menschen inzwischen wieder zögern oder es gar nicht wagen, sich auf unseren Straßen als Jüdin oder als Jude zu erkennen zu geben.“ Körperliche Übergriffe und unmittelbare Konfrontationen seien im Südwesten zwar die absolute Ausnahme. „Aber auch jede Zerstörung und Beschädigung von israelischen Flaggen ist nicht hinnehmbar. Denn auch darin zeigt sich die böse Fratze des Antisemitismus“, sagte Strobl.

Nach Angaben des baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume bedient sich die Hamas auch neuester Wege, um Einfluss zu nehmen: „Die Hamas hat es geschafft, mit digitaler Terrorpropaganda gegen Israelis und Jüdinnen noch mehr Antisemiten bis zu Straftaten zu bringen“, sagte der promovierte Religions- und Politikwissenschaftler der Deutschen Presse-Agentur.

Zunahme antisemitischer Straftaten um 206 Prozent

Die Zahl antisemitischer Straftaten in Baden-Württemberg hat in den vergangenen zehn Jahren nach Angaben Blumes um 206 Prozent zugelegt. „Die längerfristige Entwicklung antisemitischer Straftaten gibt aber sowohl landes- als auch bundesweit Anlass zur Sorge“, warnt Blume dazu auch in seinem bereits vorgestellten Bericht an den Landtag. „Antisemitismus ist eine Erfahrung, die vielen Jüdinnen und Juden regelmäßig in ihrem Alltag aus der Mitte der Gesellschaft begegnet.“

Lag die Zahl antisemitischer Straftaten in Baden-Württemberg 2017 noch bei 99 Fällen, so erhöhte sie sich ein Jahr später auf 136 und schließlich auf 182 im Jahr 2019 sowie 228 Fälle im Jahr 2020. Vor zwei Jahren nahm sie schlagartig auf 337 zu, ein Jahr später erreichte die Zahl der Taten nach einem deutlichen Rückgang noch den Wert von 245. Offiziell, denn die Dunkelziffer bleibt groß. Und nicht immer sieht die Polizei ein politisches Motiv, nicht immer wird klar, was überhaupt dahintersteckt.

Beschädigung oder dem Entfernen von Flaggen des Staates Israels

Zum Katalog der antisemitischen Straftaten gehört die Volksverhetzung ebenso wie die Beleidigung oder das sogenannte Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, zumeist das Tragen eines Hakenkreuzes. Laut Innenministerium lag der Schwerpunkt im ablaufenden Jahr bei der Beschädigung oder dem Entfernen von Flaggen des Staates Israels, die zum Beispiel an Rathäusern als Zeichen der Solidarität gehisst wurden. Auch Sachbeschädigungen in Form von Farbschmierereien mit teilweise volksverhetzendem Inhalt gehörten zu diesem Bereich. „Körperliche Übergriffe und unmittelbare Konfrontationen sind weiterhin selten“, teilte das Innenministerium weiter mit.

Der größte Teil der antisemitischen Straftaten ist nach diesen Angaben weiterhin rechtsmotiviert mit deutlich steigender Tendenz. Von den 184 Gewaltdelikten im ersten Dreivierteljahr dieses Jahres werden 135 diesem sogenannten Phänomenbereich zugerechnet, in den ersten drei Quartalen des Vorjahres waren es 109 Fälle.

Erst vor wenigen Tagen hatte auch der Präsident des Bundeskriminalamts einen bundesweit drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten beklagt. „Die Dimension im Bereich dieser Straftaten ist neu“, sagte Holger Münch der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Dienstag). Antisemitismus habe sowohl im linken als auch im rechten Spektrum zugenommen, er sei aber auch importiert. „Viele Menschen sind aus Regionen in unser Land gekommen, in denen Israel als Feind gilt und wo die Vorstellung herrscht, dass Juden bekämpft werden müssen“, sagte Münch. Diesen aus dem Ausland importierten Antisemitismus müsse man benennen und dagegen vorgehen.