Tausende gehen in Belgien gegen Antisemitismus auf die Straße. Doch die Politik hat ein gespanntes Verhältnis zu Israel. Foto: AFP/NICOLAS MAETERLINCK

Das Verhältnis der belgischen Politik zu Israel ist gespannt. Nicht alle Minister sehen offenbar in der Hamas eine Terrororganisation. Viele Juden fühlen sich von der eigenen Regierung im Stich gelassen.

Es ist keine gute Idee, mit einem kleinen Israel-Aufkleber an der Tasche durch die Rue du Prado in Molenbeek zu gehen. Trotz des typischen Brüsseler Regentages drängen sich viele Menschen durch die enge Einkaufsstraße. Die Gasse wird gesäumt von kleinen Geschäften, wie sie auch in Istanbul, Tunis oder Tanger zu finden sind. Rund 100 000 Menschen leben in dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek und die meisten haben arabische Wurzeln, was sich im gesamten Bild des Viertels widerspiegelt. Fast alle Frauen tragen Kopftücher, die Männer Bärte, viele Reklametafeln werben auf Arabisch.

Ein Laden an der Ecke der Rue du Prado bietet Hidschabs im Sonderangebot feil, aus einem Lautsprecher tönt orientalische Musik. Ein paar Meter weiter wird Kebab verkauft, ein junger Mann mit einem sehr akkurat gestutzten Bart fragt nach der Bestellung. „Gehen Sie weg“, sagt er plötzlich barsch, als sein Blick auf den Israel-Aufkleber fällt. Er macht eine Gruppe Männer auf den Sticker aufmerksam, dann wird es sehr laut in dem Kebab-Laden und es ist an der Zeit, schnell zu gehen.

Ein Zeichen aus einer anderen Welt

Der kleine Aufkleber stammt aus einer anderen Welt, die in Brüssel allerdings nur wenige hundert Meter von Molenbeek entfernt liegt. Verteilt wurde er beim Marsch gegen Antisemitismus, zu dem sich am Sonntag rund 4000 Menschen unweit des jüdischen Museums auf dem Place de la Chapelle versammelt haben. Demonstriert werden sollte die Solidarität mit Israel, das am 7. Oktober von einem bestialischen Angriff der Terrororganisation Hamas heimgesucht worden war.

Für Belgien hatte der Marsch allergrößte symbolische Bedeutung, denn seit dem Anschlag wird immer lauter die Frage gestellt, wie die Bevölkerung zu Israel und auch zu den Juden im eigenen Land steht. Dass sehr viele der rund 400 000 muslimischen Einwohner ein gespanntes Verhältnis zum Judentum haben und ihre Haltung in die Gesellschaft tragen, ist keine Überraschung. Erstaunlicher sind eher die verschiedenen Wortmeldungen von hochrangigen Politikern aus der Regierung.

Nicht alle verurteilen den Terror der Hamas

Für Aufregung sorgte ein kurzes Interview mit der belgischen Ministerin für Umwelt und Klima im Frühstücksfernsehen. Gefragt wurde sie, ob die Hamas eine Terrororganisation sei, doch Zakia Khattabi wich aus. „Ich verwende den Begriff nicht“, sagte die Tochter marokkanischer Einwanderer, „er hat eine juristische Bedeutung, die ich nicht kenne.“ Und für die Grünen-Politikerin ist klar: „Die einzigen Opfer der Gewalt heute sind die Bewohner von Gaza.“

Danach irritierte auch Fouad Ahidar, Vizepräsident des Brüsseler Regionalparlaments, mit der Aussage, dass es sich beim israelischen Vorgehen um „Völkermord“ handle. Israel habe „seit 75 Jahren Hass, Massaker und Verzweiflung gesät, und nun hat die Hamas darauf eine ganz kleine Antwort gegeben“, ereiferte sich der Sozialdemokrat, auch er ist marokkanischer Herkunft. Natürlich gab es danach viele Stimmen, die zur Mäßigung aufriefen, aber in der Diskussion war damit ein scharfer Ton vorgegeben.

Sanktionen gegen Israel geplant

Dass die kritische Haltung gegenüber Israel keine originär linke Einstellung ist, bewiesen die flämischen Christdemokraten (CD&V), die im Parlament einen Gesetzesvorschlag präsentierten, mit dem der Verkauf von Waren aus Israel verboten werden sollte. In den Reihen der Regierung fand das Vorhaben bei Sozialdemokraten und Grünen sofort eine breite Unterstützung. „Es ist Zeit für Sanktionen gegen Israel“, betonte die grüne Ministerin für den öffentlichen Dienst, Petra De Sutter. Das aber rief den liberalen Regierungschef Alexander De Croo auf den Plan. Ihm gelang es zwar nicht, das Vorhaben zu begraben, man einigte sich aber darauf, eine Kennzeichnung israelischer Waren einzuführen. Die Belgier sollten selbst entscheiden, ob sie die Produkte kaufen wollen. Passiert ist bisher allerdings nichts.

Rund 40 000 Juden leben in Belgien und die Mitglieder der Gemeinde registrieren jedes dieser Signale sehr genau. „Ich habe Angst“, gesteht eine junge Teilnehmerin bei dem Marsch gegen Antisemitismus in Brüssel, „zum ersten Mal habe ich Angst, dass mir in meiner Heimat Belgien etwas Schlimmes passieren könnte, nur weil ich Jüdin bin.“ Paul Magnette versucht solche Bedenken zu zerstreuen. Der 52-jährige ist einer der führenden Sozialdemokraten im Land und diskutierte während des Marsches unablässig mit den Teilnehmern. Es gelte mit „unerschütterlicher Entschlossenheit“ Antisemitismus und Rassismus bekämpfen lautet sein Mantra.

Antisemitische Anschläge in Belgien

Doch wie schwer das ist, muss er als Bürgermeister von Charleroi in seiner eigenen Stadt erleben. In diesen Tagen sind auf dem Friedhof im Stadtteil Marcinelle über 80 jüdische Gräber geschändet worden. Plötzlich ist die 200.000-Einwohner-Stadt ein Sinnbild für den wachsenden Antisemitismus in Belgien. Yves Oschinsky, Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen in Belgien, empörte sich in der Tageszeitung „Le soir“, dass dies „keine gewöhnliche Schändung“ gewesen sei. „Sie zielt darauf ab, Juden ihrer Identität zu berauben, da man die Davidsterne von den Gräbern entfernt hat. Das übertrifft alle Abscheulichkeiten.“ Und Yves Oschinsky beklagt, dass in Belgien nicht ein Anstieg, sondern eine „Explosion“ von antisemitischen Handlungen zu beobachten sei.

„Der Vorfall in Charleroi und die vielen antisemitischen Schmierereien an den Wänden sind doch nur eine Seite“, sagt die junge Frau beim Marsch gegen Antisemitismus in Brüssel. Sie macht den Politikern in Belgien zum Vorwurf, dass die sich nicht energisch vor die jüdische Gemeinde gestellt hätten. „Stattdessen fliegt unser Premierminister in den Nahen Osten und erklärt dort, dass Israel als Reaktion auf den Terrorüberfall den Gaza-Streifen nicht mit Raketen beschießen dürfe.“

Den Terror im eigenen Land übersehen

Dieser Besuch in der Region hatte auch in Deutschland einiges Befremden ausgelöst. Alexander De Croo gehört allerdings in der Europäischen Union von Anfang an zu den schärfsten Kritikern des Vorgehens Israels gegen die Hamas.

Umfragen belegen, dass antisemitische Einstellungen in Belgien nicht weiter verbreitet sind, als in anderen Ländern Europas. Allerdings müssen sich die Sicherheitskräfte den Vorwurf gefallen lassen, einige Auswüchse schlicht übersehen zu haben. Völlig unerkannt blieb etwa der Aufstieg des Landes zu einem Zentrum des islamistischen Terrors in Europa. Vom Brüsseler Stadtteil Molenbeek aus agierte etwa die Terrorzelle, die im Namen des IS die blutigen Anschläge am 13. November 2015 in Paris und am 22. März 2016 in Brüssel verübte.

Auch jetzt wird der Politik in Belgien von Seiten der jüdischen Organisationen eine zu große Blauäugigkeit angesichts einer bedrohlichen Entwicklung vorgeworfen. Der Grund scheint ihnen klar: im kommenden Juni stehen in Belgien Parlamentswahlen ins Haus. Da wolle man die große muslimische Gemeinde nicht verärgern.