Historischer Moment: Am 20. September 1973 treffen sich die Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzler Willy Brandt im Palais Schaumburg in Bonn. Foto: Björn-Steiger-Stiftung

Vor 50 Jahren hat die Politik die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112 beschlossen. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, war damals ein großer Schritt – angeschoben aus der Region Stuttgart.

Heute weiß es jedes Kind: Wer in einem Notfall die Polizei braucht, wählt die 110. Für Feuerwehr und Rettungsdienst gilt die 112. Eine Selbstverständlichkeit. Doch der Weg dahin war ein langer und schwieriger. Am 20. September jährt sich der Beschluss zur bundesweit flächendeckenden Einführung der beiden Notrufnummern zum 50. Mal. Es ist eine Geschichte voller kurioser Wendungen, Tricks und Kniffen, die wesentlich mit der Region Stuttgart zu tun hat.

Anfang der 1970er Jahre gibt es die Nummern in der damaligen Bundesrepublik Deutschland zwar schon, aber bei weitem nicht überall – im Gegensatz zur DDR, wo sie flächendeckend gelten. Im Westen dagegen ist etwa die Polizei laut eines Berichts der Bundesregierung wenige Monate vor der Reform nur in rund 1000 von 3785 Fernsprechortsnetzen unter der 110 zu erreichen. Wer schnelle Hilfe braucht, muss vielerorts erst einmal das Telefonbuch wälzen, um die richtige Nummer zu finden. Auf diese Weise geht viel Zeit verloren – und wenn es um die Rettung von Menschenleben geht, zählt jede Sekunde.

Das wissen damals wenige besser als das Ehepaar Siegfried und Ute Steiger aus Winnenden (Rems-Murr-Kreis). Sie haben im Jahr 1969 ihren Sohn Björn bei einem Autounfall verloren. Damals gab es in Deutschland noch keine richtigen Rettungsdienst-Strukturen. Es dauerte rund eine Stunde, bis Hilfe am Unfallort eintraf. Der Achtjährige starb schließlich auf der Fahrt ins Krankenhaus – nicht an seinen Verletzungen, sondern am Schock. Und seine Eltern beschließen, die Björn-Steiger-Stiftung zu gründen, um das Rettungswesen in Deutschland nach vorne zu bringen. Eine zähe Angelegenheit mit unzähligen beteiligten Akteuren.

Zu den großen Defiziten, die die Steigers erkennen, gehört auch das Fehlen bundesweit einheitlicher Notrufnummern. Innerhalb von vier Jahren tippt Ute Steiger auf einer Schreibmaschine über 6000 Briefe an Entscheidungsträger, ihr Mann spricht jeden Politiker persönlich an, den er erreichen kann. Horst Ehmke macht besondere Bekanntschaft mit dessen Hartnäckigkeit. Im Jahr 1972 finden Bundestagswahlen statt, und Siegfried Steiger lässt keinen Auftritt des künftigen Bundespostministers in seinem Stuttgarter Wahlkreis aus, um ihn öffentlich mit der Frage zur Notrufnummer zu konfrontieren. Ehmke zeigt zwar große Sympathien für das Anliegen, sieht sich politisch aber außerstande, die Idee umzusetzen. Im Bundestag herrscht die Meinung, das Vorhaben sei zu teuer. Genaue Zahlen zur Finanzierung werden allerdings nie vorgelegt.

Geld sammeln und klagen

Im Juli 1973 will Steiger die Kosten selbst überprüfen. Er stellt bei der Oberpostdirektion Stuttgart die telefonische Anfrage, ob man ihm sagen könne, wie hoch die Kosten für den damaligen Regierungsbezirk Nordwürttemberg mit seinen 19 Landkreisen und kreisfreien Städten wären. Zu seiner Überraschung erhält er noch am selben Tag ein verbindliches Angebot über 387 000 Mark. Steiger kontaktiert alle Städte und Landkreise, sammelt Geld ein, die Stiftung beteiligt sich ebenfalls. Über die tatsächlichen Kosten lässt er alle bis zum Schluss im Unklaren, kassiert aber von jedem Beteiligten eine jeweils akzeptable Summe. Bereits Anfang August 1973 wird in einer Feierstunde die flächendeckende Einführung der Notrufnummern 110 und 112 für Nordwürttemberg gefeiert. Ein erster Erfolg.

Doch die Freude erhält einen herben Dämpfer. Am selben Tag weist der Bundestag die Einführung der Notrufnummern 110 und 112 wegen Unfinanzierbarkeit ab. Obwohl die Steigers gerade auf regionaler Ebene das Gegenteil bewiesen hatten. Also greifen sie zu einem weiteren Kniff. Noch im August 1973 klagt Siegfried Steiger gegen die Bundesrepublik Deutschland und exemplarisch gegen das Land Baden-Württemberg wegen „vorsätzlich unterlassener Hilfeleistung“. Er weiß, dass die Klage juristisch keinerlei Chance haben würde. Aber er will das Thema auf diesem Weg an eine breite Öffentlichkeit bringen.

Dazu braucht er allerdings die Medien. Doch beim Verwaltungsgericht ist damals keine Presse zugelassen. Wie erwartet muss der junge Richter zwar die Klage abweisen, doch er ist auf Steigers Seite und überzeugt den Gerichtspräsidenten, in diesem speziellen Fall einen Journalisten der Stuttgarter Zeitung zuzulassen. Der bekommt nicht nur eine Verhandlung geboten, sondern auch ein zwanzigminütiges flammendes Plädoyer des Richters. Der betont, die Sache müsse dringend politisch gelöst werden. Der ungewöhnliche Fall verbreitet sich bundesweit – und erhöht den Druck auf die Akteure.

Am 20. September 1973 kommt schließlich der große Tag. Im Beisein des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt beschließt die Ministerpräsidentenkonferenz in Bonn die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112. Noch in der Nacht klingelt bei den Steigers das Telefon. Bundespostminister Horst Ehmke meldet sich am Hörer. „Es ist zwar schon sehr spät, aber ich dachte mir, ich muss Sie jetzt trotzdem noch anrufen. Ich sitze jetzt hier noch beim Kanzler und möchte Ihnen mitteilen, dass Ihr Dickschädel sich durchgesetzt hat“, sagt er.

Es dauert zwar noch einige Jahre, bis der Beschluss flächendeckend umgesetzt ist. Doch dieser Tag im September 1973 ist der Beginn einer großen Errungenschaft, die heute jedes Kind kennt.