Im Alter werden Überlebende des 2. Weltkriegs oft von Traumata heimgesucht Foto: dpa

Das Gedenken an den Krieg erschüttert die letzten lebenden Zeugen. Alleinlassen sollte man sie mit ihren Erinnerungen nicht – Angehörige können helfen.

Berlin/Kassel/Stuttgart - Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Körperlich beinahe unversehrt hat Willi O. die Zeit des Zweiten Weltkriegs überlebt. Seine Seele hat es schlimmer erwischt. Fast sein ganzes Leben hat der alte Mann kein Sterbenswort über den Krieg verloren, der ihn bis an die Ostfront führte. Den Fragen seiner Kinder und auch seiner Enkel ist er immer ausgewichen. Doch als er die 80 schon weit überschritten hatte, wurde Willi O. plötzlich von seinen Erlebnissen heimgesucht. Nacht für Nacht erlebte er Dinge wieder, an die er jahrzehntelang höchstens eine diffuse Erinnerung gehabt hatte .

Vielen Älteren, meist der Kriegskind-Generation, ergeht es ähnlich wie Willi O. Sie klagen über Schmerzen, Atemnot und Ängste, die plötzlich aufgetaucht sind: anhand von Fernseh- oder Zeitungsberichten, die über Kampfhandlungen im Gazastreifen, in Syrien oder über den Einmarsch der IS-Truppen im Irak und in Syrien berichten. „Etwas taucht auf und stößt die Erinnerung in aller Intensität an“, sagt Hartmut Radebold, Psychotherapeut und Psychoanalytiker aus Kassel. Auslöser, sogenannte Trigger, können Geräusche, Gerüche, ein Feuerwerk oder eine bestimmte Sprache sein.

Den meisten Älteren ist bei ihren Ängsten und Gefühlen nicht einmal klar, dass es um Belastungen aus der Kriegskindheit geht, so die Experten. Spricht man sie darauf an, berichten die Betroffenen teils emotionslos über ihre Kriegserfahrungen. Experten reden dann von Retraumatisierung.

1945 waren 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahre schwer belastet. Auch wenn sie nicht selbst im Krieg waren wie Willi O., so haben sie den Beschuss erlebt, wurden Zeugen von Vergewaltigungen, mussten fliehen oder waren verschüttet. Geredet wurde über die Erlebnisse nach dem Krieg nicht. Radebold geht davon aus, dass 80 Prozent der Betroffenen geschwiegen haben. Ilka Quindeau, Psychologin an der FH Frankfurt, beschreibt die damaligen Erziehungsmethoden folgendermaßen: „Als Ideal galt, jegliche empathische Zugewandtheit zu vermeiden.“ Mitgefühl von den Eltern gab es keines. Quindeau geht auf Grundlage einer Leipziger Studie davon aus, dass 15 bis 18 Prozent der Kriegskinder unter Trauerfolgestörungen leiden, 5 bis 8 Prozent haben eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). „Massive Belastungen haben fast alle erlebt, ein kleinerer Teil – jeder Fünfte – leidet noch heute.“

Wie sich die Langzeitfolgen heute noch messen lassen, hat eine gemeinsame Untersuchung der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) mit der kalifornischen RAND Corporation in Santa Monica herausgefunden. Dazu wurden die Antworten von 21 000 Teilnehmern aus zwölf europäischen Ländern ausgewertet.

Demnach leiden Kriegskinder besonders in Deutschland und Polen sowie in der Tschechischen Republik im Alter statistisch gesehen häufiger an Diabetes, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als gleichaltrige Zeitgenossen, die in kriegsverschonten Ländern wie der Schweiz aufgewachsen sind. „Insgesamt zeigt die Gruppe mit Kriegserfahrung eine geringere Lebenszufriedenheit“, sagt Joachim Winter, Professor für empirische Wirtschaftsforschung von der LMU.

Im Alter fällt das Gerüst weg, das die traumatischen Erinnerungen in Schach gehalten hat. Schlüsselreize wie Krankheit, Verlust oder Tod treten häufiger auf und lösen die bis dahin verdrängten Gefühlsreaktionen aus. Viele der ehemaligen Kriegskinder haben das Gefühl, sie müssten noch einmal im Leben darüber sprechen. Im Umkehrschluss bedeutet das für Radebold, dass Betroffene, die ihre Vergangenheit annehmen, weniger anfällig für Traumareaktivierungen und Retraumatisierungen sind.

Dennoch ist Menschen wie Willi O. zu helfen: Traumareaktivierungen und Belastungen lassen sich gut behandeln – auch ohne professionelle Hilfe. Bemerken Angehörige, dass Eltern oder Großeltern alte Erinnerungen belasten, sollten sie darauf eingehen und sie behutsam nach der Zeit fragen. „Vor allem Jüngere sollten sich trauen und fragen: „Was hast du erlebt, was ist dir passiert?“, rät Radebold. Wer das Thema anspricht, muss sich aber auf heftige Reaktionen gefasst machen: Den Kummer müssten beide Seiten ertragen und akzeptieren.

Alternativ können Betroffene mit ihrem Hausarzt sprechen. An vielen Orten stehen auch Gesprächsgruppen für Kriegskinder zur Verfügung. Experten halten es für sinnvoll, die eigene Geschichte aufzuschreiben – entweder in einer Schreibwerkstatt oder alleine. Zudem rät Radebold zu einer professionellen Beratung, in der Betroffene abklären können, welche Hilfen ihnen guttun.

In der Zukunft wird es wichtiger werden, auch Pflegeeinrichtungen mit der Traumareaktivierung vertraut zu machen. Denn die Kriegskinder sind mittlerweile 70 Jahre und älter. „Entscheidend ist, dass Angehörige und Pflegende wissen, was ältere Menschen erlebt haben“, so Radebold.

Das Internetportal www.alterundtrauma richtet sich an Senioren mit traumatischen Erfahrungen. Es informiert über Traumata sowie Folgen des Zweiten Weltkriegs und bietet Hilfen an. Die Seite ist aus einem Projekt verschiedener Institutionen entstanden wie dem Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung.