Schrill (wie Grand-Prix-Siegerin Conchita Wurst) und konservativ zugleich: Wie die Alpenrepublik mit ihren inneren Widersprüchen umgeht. Foto: dpa

Ist Österreich nun ein liberales, offenes Land? Oder doch ein konservatives, verschlossenes? Wird es konkret, schmelzen die Gegensätze in der Alpenrepublik schnell dahin.

Bad Mitterndorf/Wien - „Die Kirche freut sich“, sagt der Herr Pfarrer, lächelt mild und fährt mit geübter Seelsorgergeste den Arm aus, „wenn der Mensch sich zum Ausdruck bringt, sich entfaltet.“ Als im Mai der 25-jährige Tom Neuwirth als Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewann, reisten Reporter und Fernsehteams auch in die Heimat der Frau mit Bart.

Bad Mitterndorf, spitzer Kirchturm in der Mitte, Geranien auf den Balkons. Die Eltern haben einen hübschen, bescheidenen Gasthof. Sonntags geht man hier gern in Janker oder Dirndl zur Kirche – im Dirndl die Frauen, im Janker die Männer, wohlgemerkt. Aber wer mit einer satten Geschichte über rückständige Älpler und homophobe Katholiken heimkehren wollte, wurde bitter enttäuscht. Ganz Bad Mitterndorf feierte glücklich das Fest der Heiligen Conchita.

Alles nur Show, aufgemacht für die Kamera und für die Touristen? Ach wo. Der Pfarrer meint es ganz genau so, wenn er sagt, dass er „für alle da“ ist und dass es „nicht die Frage“ sei, „ob einer schwul ist, sondern ob er ein guter Kerl ist“. Der stolze Papa des schrägen Tom Neuwirth, der als Conchita Wurst rechte Politiker bis nach Russland und Serbien zu Bannflüchen hinriss, ist ein Gastwirt mit Knebelbart und Lederhose. Er findet zur Kindheit und Jugend seines berühmten Sohnes Worte wie aus dem Lehrbuch für moderne Eltern. Was er sich denn hätte denken sollen, als der Junge schon im Kindergartenalter schon so gern Kleider anzog? „Dass er irgendwann schwul wird? Naa! Des war er ja schon!“

Bad Mitterndorf, 3127 Einwohner, ist kein gallisches Dorf. Es ist ein ganz und gar österreichisches: Schwer zu verstehen. In Österreich können populistische und rechtsextreme Parteien auf bis zu 30 Prozent der Stimmen rechnen. Die FPÖ, die Kreml-Chef Wladimir Putin gut findet, eingetragene Lebenspartnerschaften ablehnt und deren Vorsitzender sich über „Politik für die Wärmsten der Warmen“ lustig macht, ist bei der letzten Parlamentswahl im lieben Bad Mitterndorf sogar die stärkste Partei geworden. Nur – der Popularität der Conchita Wurst tut das keinen Abbruch.

Nach der großen europäischen Wertestudie ist Österreich bei der Ablehnung von Migranten, Muslimen und „Menschen anderer Rasse“ unter Europas Demokratien der Spitzenreiter. So weit die Statistik. Aber der spielen die Österreicher immer wieder gerne einen Streich. Volksheld Nummer zwei nach der Frau mit dem Bart ist der Sohn einer philippinischen Mutter, der im Aussehen stark nach seinem nigerianischen Vater schlägt. Seit David Alaba im Fernsehen seinen Mannschaftskameraden Franck Ribéry mit einem „Schau ned so bled, hearst?“ anranzte, ist der Bayern-Spieler mit seinem halb schüchternen, halb schelmischen Auftreten zu einer Wiener Ikone geworden.

Man muss kein Fußballstar sein, um angenommen zu werden. Als vor Jahren eine rigorose Innenministerin Asylbewerber-Familien aus den entlegenen Dörfern abschieben wollte, in die man sie zuvor verbannt hatte, brach an vielen Orten Entrüstung aus. Kirchenchöre, freiwillige Feuerwehren, Eisstockschützen protestierten.

Wer zu Wahlkampfzeiten von Deutschland nach Österreich reist, traut seinen Augen nicht. Plakate hetzen gegen „Marokkaner-Diebe“ oder, wie in der Steiermark, gegen einen dunkelhäutigen Jungen, der als „Drogendealer“ vorgestellt wird. Aber „No-go-Areas“ für Schwarze, wie in manchen deutschen Städten, gibt es in Österreich nicht. Rassistische Übergriffe sind selten.

Toleranz ist in Österreich keine Idee. Sie ist vielmehr eine Umgangsform. Im Reich der Ideen sieht es mitunter finster aus, im Alltag geht es eher gelassen zu. Von der Toleranz profitieren auch Andersdenkende. In Graz, der zweitgrößten Stadt des Landes, holte ein freundlicher Kommunist vor wenigen Jahren mehr als 20 Prozent der Stimmen – nicht weil seine Wähler an Marx, Lenin und die Revolution geglaubt hätten, sondern weil der bedächtige Herr mit den Gesichtszügen des Dalai Lama so gute Mieterarbeit geleistet hatten.

Versuche der Konservativen, dem überzeugten Bolschewiken Mauer, Stacheldraht und Stalins Lager vorzuhalten, stießen bei den Grazern auf Unverständnis. Ideen sind nicht mehr als Parolen. Man sagt sie auf, wenn es nützlich ist, aber man glaubt nicht wirklich daran. Dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber Ideologien nützt auch den Rechten. Bis heute kann man beim Heurigen oder in der Buschenschank alte Herren über „die Juden“ schwadronieren hören. Keiner steht auf, empört sich, stellt den Antisemiten zur Rede.

Ist Österreich nun ein liberales, offenes Land? Oder doch ein konservatives, verschlossenes? Nimmt man die Wahlen zum Maßstab, fällt die Antwort eindeutig aus. Eine „Linke“ gibt es nicht, wohl aber die größte und stabilste radikale Rechte in ganz Europa. Eine Mehrheit links der Mitte hat es hier zuletzt vor 30 Jahren gegeben.

Nimmt man Meinungsumfragen, fällt der Befund lange nicht so eindeutig aus. Bei der Zustimmung zur Schwulenehe, in ganz Europa inzwischen der Prüfstein für Modernität, liegt Österreich mit 49 Prozent nur knapp hinter Deutschland mit 52. Geht es um die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare, fällt die Zustimmung sogar höher aus. Die tatsächlichen Verhältnisse schließlich geben, was Modernität betrifft, ein unspektakuläres Bild. Reformen – vom Strafrecht über die Renten, die Steuern bis hin zur Privatisierung von Staatsbetrieben – kommen alle ein bisschen später nach Österreich, gehen an dem Land aber nie vorbei. Die Scheidungsrate ist höher als in Deutschland, die Fristenlösung bei der Abtreibung seit 40 Jahren praktisch unumstritten. Das Schulsystem ist „gegliedert“ wie in Deutschland, aber durchlässiger. Die Debatten über all das sind weniger heftig – weil man ja aus den Erfahrungen im größeren Nachbarland immer eh schon weiß, wie sie am Ende ausgehen.

Konservativ sein heißt in Österreich: bremsen, so gut es geht. Nicht einmal die rechte FPÖ traut sich an einen anderen Gesellschaftsentwurf – ganz anders als etwa im benachbarten Ungarn, wo ein selbstbewusster Autokrat mit Macht seine Werte durchsetzt. Aus der EU, die sie mit Ausdauer und Hingabe beschimpft, will die FPÖ nicht austreten, nicht einmal aus dem Euro. Dass sie etwas gegen Migranten und Muslime haben, signalisieren ihre Wahlkämpfer bei jeder Gelegenheit. Aber konkrete Pläne haben sie da keine; in den sieben Jahren ihrer Regierungsbeteiligung hat die Partei nicht einmal versucht, etwas durchzusetzen, das anderswo in Europa Empörung ausgelöst hätte.

So frech, beleidigend und radikal auf Plakaten und im ruppig debattierenden Parlament zu Wien auch gestritten wird: Wird es konkret, schmelzen die Gegensätze überraschend schnell dahin. Die Toleranz, die sich dann ausbreitet, kommt aus der Gleichgültigkeit, nicht aus dem Respekt. Deutsche Diskussionen über die Grenzen der Toleranz oder über die Pflicht des liberalen Staates, sich gegen Feinde der Freiheit zu wehren, sind unbekannt. Wer sich der großen Friedenspflicht offen widersetzt, landet im Aus – wie der FPÖ-Spitzenkandidat bei der Europawahl, der sich über David Alabas Hautfarbe mokierte, oder ein beliebter Kabarettist, der Conchita zum Psychotherapeuten schicken wollte. Selbst der Kardinal zu Wien hatte der Travestie-Künstlerin gratuliert.

Was den Konservativen bleibt, sind passiver Widerstand und verdruckste Reserve. Dem Teenager Tom Neuwirth ist es schlecht gegangen in Bad Mitterndorf, als er schon schwul, aber noch kein Star war. Wie schlecht genau, hat er immer nur angedeutet. Wer mit Migranten zu tun hat, bekommt mit, wie böse Beamte auf der „Fremdenpolizei“ ihre Klienten gezielt in Fallen locken, Polizisten sie beleidigen und sogar heimlich zuschlagen.

Was ist besser, was ist nachhaltiger? Überzeugte Liberalität oder habituelle Toleranz? In Österreich, wo man das Vermeiden von Debatten schon in früher Kindheit lernt, erntet man auf die Frage nur ein wissendes Lächeln. In Deutschland, wo man allem immer auf den Grund gehen muss, hat sich ein großer Dichter an der Frage versucht. Was ist besser: Die ganze Wahrheit zu haben? Oder den Trieb, ewig danach zu suchen?

Würde ihm der liebe Gott zwei verschlossene Fäuste zum Wählen geben, meinte einst der gebürtige Sachse Gotthold Ephraim Lessing, würde er ohne zu zögern den Trieb wählen und zu Gott sagen: „Die ganze Wahrheit ist ja doch nur für dich alleine!“